b) Verfassungswandel
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Ebenso wenig wie jedes vergleichbare Gesetzes- oder Verfassungswerk ist das Grundgesetz gegen Änderungsprozesse gefeit, die auf anderen als den in Art. 79 GG vorgezeichneten Wegen eintreten. Der „stille“ Verfassungswandel[178] beschreibt den Prozess, in dem sich der inhaltliche Aussagegehalt von Verfassungsnormen ändert, ohne dass der Normtext einer förmlichen Revision unterzogen wird.[179] Es handelt sich um Sinnänderung ohne Textänderung.[180] Den Paradefall des Verfassungswandels unter dem Grundgesetz bildet die Entwicklung grundrechtlicher Wirkdimensionen, die über die tradierte abwehrrechtliche Konstellation weit hinausgehen (dazu näher unten, Rn. 140ff.). Bei den oft lapidar formulierten Grundrechten mit ihrem höchst komplexen ideen- und verfassungsgeschichtlichen Unterbau ist der Spielraum für interpretatorische Weiterungen und Anpassungen von vornherein sehr viel größer als bei den im Regelfall enger und präziser gefassten staatsorganisatorischen Normen. Hier lassen sich demzufolge deutlich seltener Prozesse eines (vom Bundesverfassungsgericht zu akzeptierenden, wenn nicht von ihm initiierten) Verfassungswandels ausmachen. Zu den wenigen Beispielen zählt die „angemessene Entschädigung“ gemäß Art. 48 Abs. 3 GG, bei deren Interpretation das Gericht eine im Laufe der Zeit eingetretene Änderung der Verhältnisse feststellte, derzufolge das Abgeordnetenmandat als berufliche Hauptbeschäftigung (und nicht länger lediglich als eine Art von Ehrenamt) und die Entschädigung im Unterschied zum Herkommen und den Vorstellungen des Parlamentarischen Rates als Vollalimentation (und nicht lediglich als Aufwandsentschädigung) zu begreifen sei.[181] Desgleichen lief die Grundsatzentscheidung zu den bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr praktisch auf eine Verfassungsänderung hinaus, weil hier an den insgesamt eindeutigen Regelungen des Grundgesetzes vorbei eine außen- und verteidigungspolitische Leitung zur gesamten Hand von Regierung und Bundestag konstruiert wurde.[182] Die mehrfach nicht nur leicht variierte, sondern fundamental geänderte Judikatur zur Parteienfinanzierung mag als ein weiterer Grenzfall Erwähnung finden.[183]
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › II. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis heute › 2. Hauptlinien der Verfassungsentwicklung
a) Verfassungskontinuität: Vom Provisorium zur Dauerlösung
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An die Spitze der Skizzierung der wesentlichen Entwicklungsschritte des Grundgesetzes gehört die Feststellung, dass es von der Verabschiedung im Jahre 1949 bis über die deutsche Wiedervereinigung hinaus eine durchgreifende, kontinuierliche Entwicklungslinie gegeben hat – vom Provisorium über ein Transitorium bis hin zur dauerhaften Verfassung. Als Provisorium galt das Grundgesetz den Ministerpräsidenten der Länder ausweislich ihrer Stellungnahme zu den Frankfurter Dokumenten ebenso wie den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates. Schon die Bezeichnung (eben nicht Verfassung, sondern „nur“ Grundgesetz) sollte dies zum Ausdruck bringen. Doch da das Grundgesetz den umfassenden inhaltlichen Regelungen nach durchaus eine (in Gestalt des Art. 79 Abs. 3 GG sogar besonders dauerhafte!) Vollverfassung war, konnte es in die Rolle eines wirklich tragfähigen und lebenskräftigen Staatsgrundgesetzes hineinwachsen.[184] Das erscheint umso bemerkenswerter, als die allgemeine Wertschätzung des Grundgesetzes als einer sehr gelungenen Verfassung heute zwar üblich ist, zu Beginn aber die kritischen Stimmen überwogen.[185] Im Falle des Grundgesetzes wandelte sich Fragilität in Stabilität, wurde aus dem Provisorium ein Definitivum, das auch den epochalen Einschnitt der Wiedervereinigung Deutschlands überstand. Dass sich sogar der für viele schwierige Begriff des Patriotismus mit dem der Verfassung verknüpfen konnte,[186] ist ein schlagender Beweis für diese Erfolgsgeschichte.
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Natürlich unterlag das Grundgesetz inhaltlich vielfachen Änderungs- und Wandlungsprozessen. Absolut grundstürzende Umgestaltungen gewissermaßen identitätsverändernden Charakters gab es jedoch nicht. Es ist „in den Grundlinien seiner Konzeption erhalten geblieben“ und hat „keine tiefer gehenden Veränderungen des vom Parlamentarischen Rat festgelegten Grundschemas“ erfahren.[187] Freilich hat es einige besonders einschneidende Modifikationen gegeben, von denen die wichtigsten im Folgenden knapp geschildert werden sollen.
b) Verfassungsnachholung: Wehr- und Notstandsverfassung
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Die sukzessive Rückgewinnung voller staatlicher Souveränität durch den Abbau der Besatzungsrechte hatte ihre Kehrseite im entsprechenden Aufbau eigener Handlungsvollmachten, zu denen traditionsgemäß eigene Streitkräfte ebenso zählten wie Regelungen zur Bewältigung staatlicher Notstandslagen. Die Einfügung von Wehrverfassung (aa) und Notstandsverfassung (bb) wird demgemäß als „nachgeholte Verfassunggebung“[188] eingeordnet.
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aa) Die Aufstellung eigener Streitkräfte mit der Wiedereinführung der Wehrpflicht für Männer war ein wesentlicher Akt der Westintegration der frühen Bundesrepublik.[189] Auf verfassungsrechtlicher Ebene erfolgte sie in zwei Schritten: einem gewissermaßen ersten Versuch, bei dem man noch die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Auge hatte, mit der Wehrnovelle von 1954;[190] sodann dem entscheidenden zweiten Schritt einer umfassender ausgearbeiteten Wehrverfassung 1956.[191] Bei dem sich über Jahre hinziehenden Gesamtprozess ging der Abbau des Besatzungsrechts Hand in Hand mit dem völkerrechtlichen Beitritt zu militärischen Allianzen (NATO, WEU) und der Veränderung des Verfassungsrechts. Eine zentrale Rolle spielten die Pariser Verträge von 1954, darunter als wichtigster der Deutschland-Vertrag (eine Neufassung des nicht in Kraft getretenen Generalvertrages von 1952). Er hob, von einigen alliierten Vorbehalten abgesehen, das Besatzungsstatut auf und gab Deutschland somit die Souveränität zurück.[192] Funktional erfüllte er zumindest partiell die Rolle eines Friedensvertrages. Am 5. Mai 1955 traten die Verträge in Kraft, vier Tage danach war die Bundesrepublik Mitglied der NATO. Am 12. November 1955 erhielten die ersten 101 Freiwilligen der Bundeswehr ihre Ernennungsurkunden. Ein gutes halbes Jahr später waren Wehrverfassung und Wehrpflichtgesetz verabschiedet – das Land hatte wieder eine Wehrpflichtarmee. Am 1. April 1957 rückten die ersten 10 000 wehrpflichtigen Rekruten in die Kasernen ein.
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Die neuen grundgesetzlichen Regelungen[193] betrafen zum einen den Grundrechtsabschnitt (Ersetzung der „Verwaltung“ durch „vollziehende Gewalt“ in Art. 1 Abs. 3 GG, Ersatzdienst für Kriegsdienstverweigerer gem. Art. 12 Abs. 2 GG, Grundrechtseinschränkungen gem. Art. 17a GG), vor allem aber die Staatsorganisation, wobei als hervorstechendes Kennzeichen die „Reduzierung und Teilung des traditionell umfassenden militärischen Oberbefehls [...] und die Stärkung der parlamentarischen Kontrolle“[194] zutage tritt. Die Verankerung des Amtes eines Wehrbeauftragten (Art. 45b GG) und des Verteidigungsausschusses, der zugleich die Rechte eines Untersuchungsausschusses hat (Art. 45a Abs. 2 Satz 1 GG), weisen in diese Richtung.
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bb) Auch die nach weit zurückreichenden Vorarbeiten im Jahre 1968 verabschiedete Notstandsverfassung[195] war letztlich noch besatzungsrechtlich induziert, weil an ihre Verabschiedung der Verzicht auf vorbehaltene Rechte der Alliierten aus dem Deutschland-Vertrag von 1955 geknüpft wurde.[196] Die den inneren wie den äußeren