III. Angelsächsischer Rechtskreis
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Im traditionellen common law bestand das anerkannte Vergehen der Erpressung darin, dass ein Amtsträger unter Missbrauch seiner Amtsgewalt Gebühren nahm, die ihm nicht oder nicht in dieser Höhe zustanden.[350] Wurde die Erpressung somit zunächst als Amtsdelikt verstanden, ist die Erpressung als allgemeines Vermögensdelikt dem common law als eigenständiger Tatbestand unbekannt. Diese Lücke wurde in den letzten Jahrhunderten durch statute law geschlossen, das die Erpressung teils als extortion oder blackmail bezeichnete, welche regelmäßig milder als der Raub bestraft wurde. In England ist die Erpressung mittlerweile in sec. 21 des Theft Act 1968 geregelt und mit Freiheitsstrafe bis zu 14 Jahren bedroht.[351] Strafbar ist hiernach die Geltendmachung einer unbegründeten Forderung durch Drohung in Bereicherungsabsicht oder mit Schädigungsvorsatz. Die Bereicherung oder Schädigung muss also nicht eingetreten sein. Erfasst werden kann aber nicht nur die Geltendmachung unbegründeter Forderungen, sondern auch die Geltendmachung begründeter Forderungen, wenn diese unter Androhung nicht ordnungsgemäßer Mittel vollzogen wird und der Täter hierfür keine „vernünftigen Gründe“ vorbringen kann. – Im Bundesstrafrecht der Vereinigten Staaten nach 18 USC § 873 wird wegen Erpressung (blackmail) derjenige mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft, der einen Dritten mit einer Anzeige wegen der Verletzung von Bundesrecht droht und dafür Geld fordert oder erhält.[352] Spezialtatbestände sind enthalten in 18 USC § 872 (Erpressung im Amt), 18 USC § 874 (Erpressung sog. „kick-backs“ bei der Vergabe öffentlicher Aufträge) und 18 USC § 875, 876 (wissentliche Übermittlung von Drohungen im Zusammenhang mit einem erpresserischen Menschenraub im zwischenstaatlichen Telekommunikationsverkehr – mit Freiheitsstrafe bis zu 20 Jahren!). Der weitaus größere Teil der begangenen Erpressungskriminalität fällt jedoch in den Anwendungsbereich der Strafgesetze der jeweiligen Einzelstaaten. Alle Einzelstaaten kennen entsprechende Strafnormen, die die Erpressung als Vermögens- oder Eigentumsdelikt unter Strafe stellen, die aber vielfältig voneinander abweichen.[353] So regelt z.B. sec. 155.15 New York Penal Law, dass ein Täter auch dann wegen einer Erpressung strafbar ist, wenn ihm ein Anspruch auf die abgepresste Sache zusteht. § 223.4 des Model Penal Code sieht einen Tatbestand des „Diebstahls durch Erpressung“ vor, wenn der Täter durch im Einzelnen aufgezählte Zwangsmittel einen (unrechtmäßigen) Vermögensvorteil erlangt.
IV. Romanischer Rechtskreis
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Das französische Recht unterscheidet sich teilweise erheblich vom deutschen Recht.[354] Das Verbot der gewaltsamen Erpressung (extorsion violente) findet sich bereits im Code Pénal von 1810, jedoch beschränkt auf Rechtstitel und Unterschriften.[355] Seit 1863 kann die Erpressung auch durch die Drohung, ehrenrührige oder rufschädigende Tatsachen zu enthüllen (chantage), begangen werden. Nach dem heutigen Recht bezieht sich die gewaltsame Erpressung nach Art. 312 Code Pénal auf das Erlangen im Einzelnen aufgezählter Vermögensobjekte durch Gewalt, Drohung mit Gewalt oder psychischen Zwang. Der Strafrahmen beträgt bis zu sieben Jahre Freiheitsstrafe. Daneben gibt es zahlreiche Erschwerungsgründe, u.a. bei Gewaltanwendung gegen Personen, wenn diese zu einer längeren Arbeitsunfähigkeit führt. Eine ausdrückliche Regelung hat auch die „chantage“ in Art. 312-10 Code Pénal erfahren, die mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren gegenüber der einfachen Erpressung privilegiert ist. – Das italienische Recht kennt die (einfache) Erpressung in Art. 629 Abs. 1 Codice Penale („Estorsione“).[356] Dieser ist weiter als der deutsche Erpressungstatbestand, da er jede Gewaltanwendung (auch gegen Sachen) oder Drohung ausreichen lässt. Ein mit der räuberischen Erpressung vergleichbarer Tatbestand ist als Qualifikation in Art. 629 Abs. 2 Codice Penale enthalten, wonach eine Strafschärfung stattfindet, wenn bei der Erpressung zugleich Merkmale verwirklicht werden, die beim Raubtatbestand (Art. 628 Codice Penale) nach dessen Absatz 2 einen Erschwerungsgrund darstellen (z.B. bei Anwendung von Waffen, Raub durch Vermummte oder Raub durch Mitglieder einer mafiösen Organisation). Interessanterweise kann die Tat (Freiheitsstrafe bis zu 20 Jahren) in diesen Fällen schwerer bestraft werden als beim schweren Raub (Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren). – Auch das spanische Recht kennt in Art. 243 Código Penal (extorsión) einen Tatbestand der Erpressung, der die Nötigung eines anderen zur Vornahme (oder Unterlassung) einer Rechtshandlung oder eines Rechtsgeschäfts bestraft, wenn diese zum Vermögensschaden des Genötigten oder eines Dritten führt und in Gewinn- oder Vorteilsabsicht durchgeführt wird.[357] Die Tat wird mit Gefängnis von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft.
8. Abschnitt: Schutz des Vermögens › § 32 Erpressung und räuberische Erpressung › E. Bezüge zum Strafverfahrensrecht
E. Bezüge zum Strafverfahrensrecht
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Häufig benutzt der Erpresser unmoralisches oder strafbares Verhalten des Opfers als Druckmittel, um dieses zu erpressen (die bereits genannte „Chantage“ bzw. „Schweigegelderpressung“).[358] Um die Opfer zur Anzeige zu ermutigen und so des Täters habhaft zu werden, ermöglicht § 154c StPO das Absehen von der Verfolgung des Erpressungsopfers, „wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerlässlich ist“. In Nr. 102 RiStBV (Einstellung zugunsten des Opfers einer Nötigung oder Erpressung) findet sich auch die Anweisung für die Staatsanwaltschaft, dass eine Einstellung nach § 154c StPO grundsätzlich nur dann erfolgen soll, wenn die Nötigung oder die Erpressung strafwürdiger ist als die Tat des Genötigten oder Erpressten (Nr. 1). Ferner findet sich hier auch die Regelung, dass die Entscheidung, ob zugesichert werden kann, dass das Verfahren eingestellt wird, dem Behördenleiter vorzubehalten ist (Nr. 2). Diese Einstellungsmöglichkeit soll allerdings für das Opfer keinen „Freibrief“ für eine zuvor begangene eigene Straftat bedeuten.[359]
8. Abschnitt: Schutz des Vermögens › § 32 Erpressung und räuberische Erpressung › F. Fazit
F. Fazit
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Die (räuberische) Erpressung gehört zu den „klassischen“ Straftatbeständen des StGB. Die damit verbundenen Probleme, insbesondere die Frage, ob die (räuberische) Erpressung eine Vermögensverfügung des Opfers voraussetzt, werden seit langem (kontrovers) diskutiert. Größere Änderungen sind hier, auch unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten, in nächster Zeit nicht zu erwarten.