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Wenn sich ein Bürger gegen eine Menschenrechtsverletzung zur Wehr setzen möchte, kann er sich direkt an die Gerichte wenden. Soweit Menschenrechtsverletzungen im Judicial Review-Verfahren gerügt werden, muss der Kläger klagebefugt sein. Test für die Klagebefugnis ist die Frage, ob der Kläger „Opfer“ eines Menschenrechtsverstoßes geworden ist. Die Gerichte und Tribunale können alle „normalen“ Entscheidungen treffen, Gerichte auch auf Schadensersatz erkennen und einstweilige Verfügungen erlassen. Die genaue Qualifizierung des Schadensersatzanspruches ist streitig. Einerseits wird die Ansicht vertreten, es handele sich um einen deliktischen Anspruch; andererseits wird angenommen, es handele sich um einen öffentlich-rechtlichen Schadensersatzanspruch. Diese Unterscheidung ist relevant, da die von den Richtern festzusetzende Art und Höhe des Schadensersatzanspruches von dieser Zuordnung abhängen kann.[103] Die Gewährung des Schadensersatzes steht im Ermessen des Gerichts und erfolgt nur, falls sie „notwendig“ ist. Die Gerichte haben somit die Befugnis zur Gewährung von Schadensersatz, sind aber nicht dazu verpflichtet. Die Gewährung von Schadensersatz wegen Verstoßes gegen Menschenrechte gemäß Absatz 8 des Human Rights Act 1998 sollte sich an den Grundsätzen, die vom EGMR entwickelt worden sind, orientieren, so dass der nationale Schadensersatz „äquivalent“ mit diesen ist. Das Gericht ist somit gehalten, die europäischen Grundsätze „in Betracht“ zu ziehen; es ist jedoch – anders als im Hinblick auf die aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Verpflichtungen[104] – nicht an sie gebunden.[105] Nur wenige Entscheidungen haben diese Frage bislang erörtert. Der Bericht der Law Commission aus dem Jahre 2000 stellt in detaillierter Weise die Schwierigkeiten dar, die sich aus den lückenhaften Grundsätzen des EGMR in dieser Frage für die englischen Gerichte ergeben.[106] Die zwei wichtigsten Entscheidungen sind die vom Court of Appeal getroffene Entscheidung in der Rs. Anufrijeva[107] und die Entscheidung des House of Lords in der Rs. Greenfield[108]. In der Rs. Anufrijeva waren die Kläger, aus dem Baltikum stammende Asylbewerber, der Ansicht, dass ihre Unterbringung in einer Notunterkunft unzureichend sei und dass ihre Anträge auf Asyl so langsam bearbeitet worden seien, dass hierin jeweils ein Verstoß gegen Art. 8 des Human Rights Act i.V.m. der EMRK liege, der zu einem Schadensersatzanspruch gemäß Abschnitt 8 des Human Rights Act berechtige. Die Anträge blieben erfolglos. Lord Woolf formulierte in Anufrijeva einige wichtige Grundsätze: Der Kläger sollte in die Lage versetzt werden, in der er sich vor dem Menschenrechtsverstoß befunden habe, die Rechtsprechung des EGMR sei in der Frage des Schadensersatzes für immaterielle Rechtsverletzungen nicht beständig, Schadensersatz für prozessuale Rechtsverletzungen sei selten, und die Schwere der Rechtsverletzung im Einzelfall müsse in die Erwägungen einbezogen werden. In der Rs. Greenfield ging es ursprünglich um den Schadensersatzanspruch eines Inhaftierten, der der Ansicht war, dass die wegen Verstoßes gegen die Anstaltsordnung angeordnete Haftverlängerung nicht in Einklang mit den Anforderungen des Art. 6 des Human Rights Act i.V.m. der EMRK erfolgt sei. Das House of Lords hatte nur noch über den Schadensersatzanspruch zu befinden. Lord Bingham argumentierte, dass der Schadensersatzanspruch gemäß Abschnitt 8 des Human Rights Act nicht im Deliktsrecht anzusiedeln sei. Sein Zweck sei weitergehend und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vergleichen.[109] Es wird angenommen,[110] dass dies die Höhe des Schadensersatzes begrenzen wird. Menschenrechtsverstöße sind jedoch nicht zwingend Straftaten.
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Der Human Rights Act 1998 erlaubt es den Gerichten nicht, nationales Recht außer Kraft zu setzen. Die höheren Gerichte können eine so genannte Declaration of Incompatibility (Unvereinbarkeitserklärung) gemäß Abschnitt 4 abgeben, die in zweifacher Hinsicht Wirkungen entfaltet: Zum einen erregen solche Erklärungen das öffentliche Interesse und drängen die Regierung zu einer Änderung der Rechtslage. Zum anderen versuchen die Gerichte, solche Erklärungen zu vermeiden und die Gesetze menschenrechtskonform auszulegen. Nur die höheren Gerichte können eine solche Erklärung abgeben. Das sind der High Court, der Court of Appeal und das House of Lords. Die unteren Gerichte müssen zwar Gesetze, soweit dies möglich ist, menschenrechtskonform auslegen; County Courts, Tribunals, der Crown Court oder Magistrates Courts können jedoch keine Unvereinbarkeitserklärung abgeben. Im Falle einer Unvereinbarkeit müssen sie das britische Recht anwenden.[111]
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Im Fall Gahaidan v. Mendoza stellte Lord Steyn fest, dass es bislang fünfzehn solcher Erklärungen gegeben hat, von denen fünf von höheren Gerichten aufgehoben worden seien.[112] Einer der wichtigsten Fälle war R (Alconbury Developments Ltd) v. Secretary of State for Transport, the Environment and the Regions.[113] In diesem Fall hob das House of Lords die Unvereinbarkeitserklärung des Divisional Court bezüglich einer Unvereinbarkeit des Bauplanungsrechts mit Art. 6 der Konvention auf und entschied, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten im Judicial Review-Verfahren ausreichend seien, um den Verstoß gegen Art. 6 EMRK zu heilen. Darüber hinaus sei der Secretary of State, der die Planungsentscheidung in bestimmten Fällen selbst trifft, dem Parlament gegenüber verantwortlich. In Wilson v. First County Trust Ltd (no. 2)[114] entschied das House of Lords, dass entgegen dem Urteil des Court of Appeal Abschnitte des Consumer Credit Act 1974 nicht mit Art. 6 unvereinbar waren. R (H) v. Mental Health Review Tribunal[115] bezog sich auf die teilweise Unvereinbarkeit des Mental Health Act 1983 mit Art. 5 Abs. 1 und 4 der EMRK. Problematisch war hier die Beweislastverteilung zu Lasten des Patienten, welcher laut Gesetz das Nichtmehrvorliegen der Einweisungsbedingungen darzulegen hatte. Das Gesetz wurde entsprechend abgeändert und betroffene Patienten erhielten Schadensersatz. In International Transport Roth GmbH v. Secretary of State for the Home Department[116] wandten sich die Kläger, 50 Lastwagenfahrer und Speditionen, gegen die Auferlegung von Strafen gemäß dem Immigration and Asylum Act 1999. Sie hatten, ohne davon Kenntnis zu haben, illegale Einwanderer nach Großbritannien mitgenommen und waren zu Geldstrafen verurteilt worden. Dagegen brachten sie vor, dass das Gesetz gegen das Recht auf Eigentum und das Recht auf rechtliches Gehör verstoße, denn es schrieb vor, dass die Geldstrafe mit der Entdeckung der Einwanderer erhoben werden müsse, und somit keine Anhörung stattzufinden habe, von der Möglichkeit, einen Dolmetscher zuzuziehen, ganz zu schweigen. Das House of Lords entschied, dass das Gesetz nicht auslegungsfähig sei, und dass es unverhältnismäßig sei, Geldstrafen aufzuerlegen, ohne die Schuld des Fahrers zu berücksichtigen. Der Immigration and Asylum Act 1999 wurde dementsprechend geändert (jetzt Nationality, Immigration and Asylum Act 2002).
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Zu diesem früheren Fall muss die wohl wichtigste Unvereinbarkeitserklärung bezüglich des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 gezählt werden. Hier ging es um die Inhaftierung von Ausländern, die ohne Gerichtsverhandlung gemäß den Bestimmungen des Anti-terrorism, Crime and Security Act 2001 vom Secretary of State als verdächtige Terroristen benannt werden.[117] Das Gesetz hatte dem Innenminister die Befugnis eingeräumt, Verdächtige auf unbestimmte Zeit zu internieren.[118] Der Attorney General verteidigte die Regierung dahingehend, dass die Richter gegen den Willen einer demokratischen Regierung gehandelt hätten. Lord Bingham argumentierte