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Das Vereinigte Königreich hat sich lange Zeit auch gegen die EU-Grundrechtecharta als Bestandteil des VVE ausgesprochen, bis es erreicht hat, dass die Grundrechtecharta nur im Kompetenzbereich der EU Geltung beansprucht (Art. II-111 Abs. 2 VVE) und dass den sozialen Rechten, welche die „Solidarität“ verbessern sollen, keine Rechtswirkung zukommt. Sie wären lediglich Prinzipien, die Rechtswirkungen nur dann entfalten, wenn sie in materielles Recht umgesetzt werden.[13] Ihren Status als Prinzipien soll zum Beispiel Art. I-9 VVE verdeutlichen, wonach die Union Rechte, Freiheiten und Prinzipien anerkennt, die in der Grundrechtecharta enthalten sind. Diese Wortwahl deute darauf hin, dass diese Rechte bereits existierten, und auch die Formulierung „die Union anerkennt und respektiert“ soll als Hinweis auf den Prinzipiencharakter der Grundrechte verstanden werden. Demnach sei deutlich, dass die EU-Grundrechtecharta keine neuen durchsetzbaren sozialen Rechte schaffe.[14] Ob sich diese Sicht durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
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Der Widerspruch, einer geschriebenen Verfassung auf internationaler Ebene unterworfen zu sein, während es nach wie vor keine geschriebene nationale Verfassung gibt, ist in Veröffentlichungen des Parlaments nicht unberücksichtigt geblieben. Wie in vielen anderen Staaten gibt es deshalb auch im Vereinigten Königreich den Versuch, das Verhältnis von nationalem und europäischem Recht durch eine funktionale Betrachtung in den Griff zu bekommen und die schwierigeren Fragen zu beantworten, die sich aus der Europäisierung des nationalen Rechts durch die Mitgliedschaft in der EU ergeben.
Erster Teil Offene Staatlichkeit › § 17 Offene Staatlichkeit: Großbritannien › II. Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft/Union
1. Die Auseinandersetzungen um die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Mitgliedschaft
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Das Gesetzgebungsverfahren im Zuge des Beitritts war durch eine weitgehende Unkenntnis bezüglich der vollen Implikationen der Mitgliedschaft in der EWG gekennzeichnet.[15] Die britischen Gerichte benötigten denn auch beinahe zwanzig Jahre, um die volle Bedeutung dieser Mitgliedschaft zu erkennen und anzuerkennen, dass die Souveränität in Angelegenheiten, die innerhalb der Kompetenz der Gemeinschaft[16] liegen, übertragen worden ist. Es dauerte sodann weitere zehn Jahre, um eine anspruchsvolle, wenn auch traditionelle Interpretation der verfassungsrechtlichen Implikationen der Mitgliedschaft zu entwickeln.[17] Im Verfahren zur Ratifikation des Beitrittsvertrags wurden dem Parlament unvollständige Angaben zum Verhältnis zwischen dem Recht der Europäischen Gemeinschaften und dem nationalen Recht vorgelegt. Es gab zwar Versuche, den Erhalt der Parlamentssouveränität in den Gesetzesentwurf einzufügen, letztlich wurde dies aber durch die Versicherung abgewehrt, dass die Souveränität des Parlaments durch den Beitritt nicht angetastet würde.[18] Dies zeigt, dass es eine große Unsicherheit in Bezug auf die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf die britische Verfassungstradition gab.[19] In den 1960er Jahren bestand abgesehen von ein paar bemerkenswerten Ausnahmen wenig wissenschaftliches Interesse an der EWG. Nach einem berühmten Diktum von Professor de Smith war der Beitritt Großbritanniens angesichts der nunmehr doppelten Souveränität („dual sovereignty“) von britischem Parlament und Europäischen Gemeinschaften eine „rechtliche Schizophrenie“[20].
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Drei Jahre nach dem Beitritt, 1976, erklärte der berühmte Lord Denning, einer der höchsten Richter im Vereinigten Königreich, dass im Fall eines vom Parlament bewusst herbeigeführten Konflikts zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht letzterem Vorrang zukommen solle.[21] In dem betreffenden Urteil legte er zugleich den Grundstein für die Interpretation von Gesetzen und Verordnungen im Einklang mit primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht. Lord Dennings Interpretationsmethode setzt bei der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift an und versucht sodann, die nationale Vorschrift in deren Licht auszulegen. Bemerkenswert ist diese Methode vor allem deshalb, weil sie dem traditionellen Ansatz englischer Gerichte zuwiderläuft, wonach zunächst die Bedeutung des britischen Gesetzes interpretiert wird. Lord Dennings Ansatz spiegelte sich später in Sir John Laws’ Ausführungen im Fall Thoburn wider.[22] Laws stellte dort fest, dass der European Communities Act 1972 ein so genanntes constitutional statute (verfassungsrechtliches Gesetz) sei und sich dem implied repeal (stillschweigender Widerruf) entziehen könne.
2. Nationale Interessen im Kontext der Ratifikationsdebatte
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Wirtschaftlich gesehen bestand Anfang der 1950er Jahre wenig Interesse in Großbritannien an einer Mitgliedschaft in der EGKS, da es der Hauptproduzent von Kohle und Stahl in Europa war.[23] Auch die zögerliche Haltung Großbritanniens bezüglich der Begriffe und Konzepte von Supranationalität und Europäischer Union erklärt sich daraus, dass es sich für Großbritannien um eine Frage von weit reichenden Konsequenzen handelte, die vor der Eingehung von Verpflichtungen wohl überlegt sein musste.[24] Sein Weg von einer Weltmacht mit einer starken verfassungsrechtlichen Tradition im 19. Jahrhundert zu einer (gleichberechtigten) Partnerschaft innerhalb der EU im ausgehenden 20. Jahrhundert verlief naturgemäß nicht ohne Brüche.
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Widerstand kam zudem von dem „Board of Trade“ (früheres Handelsministerium bis 1970, Vorgänger des heutigen Department of Trade and Industry), das der Ansicht war, dass eine Mitgliedschaft in EWG, EAG und EGKS für die britische Industrie schädlich sein würde bzw. dass sie die Wirtschaftsbeziehungen zum Commonwealth gefährden könnte. Die Verbindungen mit dem Commonwealth waren sehr stark; noch 1948 gingen 40% aller Exporte dorthin.[25] Ende der 1950er Jahre hatte sich die Konjunkturlage verschlechtert, und es wurde deutlich, dass dies teilweise mit der Konzentration auf den Handel mit dem Commonwealth und dem Ausschluss von Westeuropa im Zusammenhang stand.[26]
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Als 1960 Diskussionen um die politische Einheit Europas und die Koordinierung von Verteidigungs- und Außenpolitik in den Mittelpunkt rückten, erkannte Großbritannien, dass eine Mitgliedschaft für ein stabiles Westeuropa eine Notwendigkeit wurde.[27] Der erste Beitrittsantrag scheiterte freilich an dem französischen Veto durch Präsident de Gaulle 1963. Dieser argumentierte, „England sei insular, maritim, durch seinen Handel, seine Märkte, seine Versorger an sehr verschiedene, weit entfernte Länder gebunden […]. Wie könne man England, so wie es lebt, wie es produziert und wie es handelt in einen Gemeinsamen Markt integrieren?“[28]. De Gaulle betonte auch die für eine Kooperation innerhalb Europas hinderliche Verbindung Großbritanniens zu den Vereinigten Staaten. Erst als er sein Amt niederlegen musste, wurden im Jahre 1969 wieder Beitrittsverhandlungen aufgenommen und zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Beide Mitgliedschaftsanträge waren jedoch von pragmatischen Erwägungen geprägt, nicht von der Begeisterung für die europäische Idee; das starke britische Identitätsbewusstsein sollte keinesfalls aufgegeben werden.[29]
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Von Anfang seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft an war Großbritannien ein „schwieriger Partner“[30]. Das hat sich bis heute nicht geändert. Obwohl die britische Regierung unter Tony Blair für europäische Fragen offener erscheint als vorangegangene Regierungen, zeigte etwa die Haushaltsdebatte des Jahres 2005, dass sich daran mittelfristig nichts ändern wird. Dieser historisch tief verankerte Befund ist dem Festhalten an der Tradition des Verfassungsrechtlers Albert Venn Dicey zugeschrieben worden, dessen Auffassung von der unteilbaren Souveränität in der britischen verfassungsrechtlichen und politischen Psyche tief verankert sei.[31] Anders als in Deutschland