Hinweis
Im Zweifel legen Sie den sachlichen Schutzbereich weit aus. Auch das Bundesverfassungsgericht legt den Schutzbereich im Zweifel extensiv aus, um einen möglichst weit reichenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Es gilt also: „In dubio pro libertate“ („im Zweifel zugunsten der Freiheit“).
2. Persönlicher Schutzbereich
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Die Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs prüfen Sie in drei Schritten:
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Denken Sie noch einmal daran: Das Prüfungsschema dient Ihnen nur als Orientierung. Auf einzelne Prüfungsschritte brauchen Sie nur dann näher einzugehen, wenn sie in Ihrer Fallbearbeitung problematisch und daher erörterungsbedürftig sind! Keinesfalls dürfen Sie das Schema in Ihrer Falllösung stur abarbeiten.
a) Grundrechtsfähigkeit
aa) Begriff
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Im ersten Schritt prüfen Sie die Grundrechtsfähigkeit der Person(en), die in dem zu prüfenden Freiheitsrecht möglicherweise verletzt ist/sind.
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Grundrechtsfähig ist jeder, der generell Träger von Grundrechten sein kann.
Für die Frage, ob eine Person grundrechtsfähig ist, ist damit eine abstrakte, d.h. vom konkreten Einzelfall unabhängige Betrachtung maßgeblich.
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Wiederholen Sie ggf. an dieser Stelle die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit!
Materiell-rechtlich betrachtet, entspricht die Grundrechtsfähigkeit der Rechtsfähigkeit im Zivilrecht.
Beispiel
Ein Nichtdeutscher im Sinne des Art. 116 GG ist grundrechtsfähig, weil er generell Träger von Grundrechten (z.B. Art. 4, Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) sein kann. Dass er hinsichtlich der Deutschengrundrechte (z.B. Art. 8 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG) nicht berechtigt ist, ist (erst) eine Frage seiner Grundrechtsberechtigung (s.u. Rn. 99 ff.).
bb) Grundrechtsfähige Personen
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Generell können sowohl natürliche als auch juristische Personen grundrechtsfähig sein.
(1) Natürliche Personen
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Grundrechtsfähig sind zunächst natürliche Personen, d.h. Menschen.[2]
(a) Dauer der Grundrechtsfähigkeit
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Die Grundrechtsfähigkeit natürlicher Personen beginnt grundsätzlich mit der Vollendung der Geburt und dauert bis zum Tod. Abweichend hiervon hat das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG auch beim Nasciturus (werdendes Leben) angewendet.[3] Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht ein postmortales Persönlichkeitsrecht anerkannt.[4] Hiernach endet die staatliche Verpflichtung, den Einzelnen gegen Angriffe auf seine Menschenwürde zu schützen, erst nach Ablauf eines angemessenen Zeitraums nach dem Tod.
(b) Personenmehrheit
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Nach den bisherigen Ausführungen wissen wir, dass einzelne natürliche Personen grundrechtsfähig sind. Nun stellt sich aber die Frage, wie der Fall zu beurteilen ist, wenn sich mehrere natürliche Personen zusammenschließen. Grundrechtsfähig sind in diesem Falle – nach den bisherigen Erörterungen – unproblematisch die einzelnen natürlichen Personen als Mitglieder der Personenmehrheit. Grundrechtsfähig könnte aber auch die Personenmehrheit selbst sein.
Beispiel
D, E und F bilden hobbymäßig eine Musikband. Meist musizieren sie stundenlang am Wochenende in der Wohnung des D. Der Vermieter des D wohnt unmittelbar unter D und ist über die musikalischen Aktivitäten seines Mieters wenig erfreut. Daher will er das Musizieren am Wochenende zukünftig weitestgehend unterbinden.
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Schließen sich mehrere natürliche Personen zu einer schlichten Personenmehrheit zusammen, ist diese Personenmehrheit nicht grundrechtsfähig. Grundrechtsfähig sind nur die einzelnen Mitglieder dieser schlichten Personenmehrheit. In unserem Beispielsfall (Rn. 81) ist die Musikband als schlichte Personenmehrheit daher selbst nicht grundrechtsfähig. Die einzelnen Bandmitglieder D, E und F können sich demgegenüber jeweils selbständig u.a. auf das Grundrecht auf Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 Var. 1 GG berufen (beachte hier die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte!).
(2) Juristische Personen des Privatrechts
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Im Gegensatz zu schlichten Personenmehrheiten können sich inländische juristische Personen gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auf Grundrechte berufen, soweit die Grundrechte ihrem Wesen nach auf die juristische Person anwendbar sind. Art. 19 Abs. 3 GG begründet somit eine eigene Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen.
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In der Fallbearbeitung ist Art. 19 Abs. 3 GG immer dann von Bedeutung, wenn eine überindividuelle Person eigene Grundrechtsverletzungen geltend macht.
Beispiel
E und F aus dem Beispiel oben (Rn. 81) arbeiten beide als angestellte Elektriker. Eines Tages beschließen sie, sich gemeinsam beruflich selbständig zu machen. Hierfür gründen sie eine OHG. Den Beitrag, den sie für das laufende Kalenderjahr an die Handwerkskammer entrichten sollen, halten sie für überhöht. Überhaupt halten sie die Mitgliedschaft in der Kammer an sich für völlig überflüssig.
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Ob sich eine juristische Person auf Art. 19 Abs. 3 GG berufen kann, prüfen Sie in drei Schritten: Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob es sich bei der Personenmehrheit um eine juristische Person i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG handelt. Der in Art. 19 Abs. 3 GG verwendete Begriff der „juristischen Person“ ist ein verfassungsrechtlicher Begriff, der weiter gefasst ist als der einfach-gesetzliche Begriff der „juristischen Person“. Während der einfach-gesetzliche Begriff der „juristischen Person“ lediglich vollrechtsfähige Personenmehrheiten erfasst, umfasst der verfassungsrechtliche Begriff der „juristischen Person“ sowohl jede Personenmehrheit, die nach dem einfachen Recht Vollrechtsfähigkeit