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Die Zumutbarkeit entfällt regelmäßig nicht allein deshalb, weil der Hilfspflichtige sich durch die Hilfe der Gefahr der eigenen Strafverfolgung aussetzt.[40] Jedenfalls dann, wenn der Täter das Unglück fahrlässig,[41] durch Notwehr[42] oder gar vorsätzlich und schuldhaft herbeigeführt hat, entfällt die Zumutbarkeit nicht.[43] Jedoch kann die Gefahr, einen Angehörigen durch die Hilfeleistung der Gefahr der Strafverfolgung auszusetzen, die Zumutbarkeit entfallen lassen.[44] Letztlich ist dies aber stets aufgrund einer Gesamtabwägung für den Einzelfall zu entscheiden.
II. Subjektiver Tatbestand
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Zumindest bedingter Vorsatz ist erforderlich.[45] Bezüglich der Zumutbarkeit der Hilfeleistung reicht die Kenntnis der sie begründenden Umstände aus. Meint also ein Hilfspflichtiger aus tatsächlichen Gründen irrig, die Hilfe sei für ihn unzumutbar, so liegt ein Tatbestandsirrtum (§ 16) vor.
Beispiel:
C hat im Fall Rn. 13 vergessen, dass er ein zweites Paar Handschuhe dabei hat. – Irrtum über ein Merkmal des objektiven Tatbestands und daher keine Strafbarkeit nach § 323c Abs. 1.
C. Täterschaft und Teilnahme, Versuch sowie Konkurrenzen
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Für Täterschaft und Teilnahme gelten die allgemeinen Regeln (§§ 25 ff), denen freilich nicht durchweg dieselbe praktische Bedeutung zukommen wird.[46]
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Der Versuch ist nicht strafbar. Die Tat ist nach der Rechtsprechung bereits vollendet, wenn der Täter die erste Möglichkeit zur Hilfeleistung ungenutzt lässt.[47] Der Rechtsprechung folgend, will eine Ansicht in der Literatur wegen des sehr frühen Vollendungszeitpunkts die Vorschriften zur tätigen Reue analog anwenden,[48] was aber eine planwidrige Regelungslücke voraussetzen würde, an der es fehlt.[49]
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Ist der Unglücksfall durch ein Delikt des Hilfspflichtigen herbeigeführt worden, so verdrängt dieses den subsidiären § 323c.[50] Bleibt indes unaufklärbar, ob der Täter an der Straftat, die den Unglücksfall herbeigeführt hat, beteiligt war, kann er wegen unterlassener Hilfeleistung bestraft werden.[51] Dies gilt auch dann, wenn dem Verletzten noch ein vom Vorsatz des Täters nicht umfasster weiterer Schaden droht.[52] Die §§ 138 und 221 gehen als spezieller vor.[53] Tateinheit (§ 52) kommt oft mit § 142 und § 315b in Betracht.
Vertiefungshinweis:
Hingegen kann § 323c Abs. 2 mit einer Vortat in Tateinheit (§ 52) stehen, da die Rechtsgüter des Hilfsbedürftigen einem weiteren Angriff ausgesetzt werden, der sich zudem gegen eine hilfeleistende Person richtet.
D. Kontrollfragen
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1. | Was unterscheidet § 323c Abs. 1 von einem unechten Unterlassungsdelikt? → Rn. 1 |
2. | Kommt ein Selbsttötungsversuch als „Unglücksfall“ i.S. des § 323c in Betracht? → Rn. 5 ff. |
3. | Nach welchem Maßstab beurteilt sich, ob die Hilfe erforderlich ist? → Rn. 11 |
4. | Muss die Hilfeleistung Aussicht auf Erfolg haben? → Rn. 12 |
Aufbauschema (§ 323c Abs. 1)
1. | Tatbestand a) Objektiver Tatbestand (1) Unglücksfall, gemeine Gefahr oder Not (2) Unterlassen der erforderlichen und zumutbaren Hilfe b) Subjektiver Tatbestand – Vorsatz |
2. | Rechtswidrigkeit |
3. | Schuld |
Empfehlungen zur vertiefenden Lektüre:
Leitentscheidungen: BGHSt – GS – 6, 147 – „Selbsttötungsfall“; BGHSt 11, 135 – „Ehefraufall“; BGHSt 14, 213 – „Fahrerfluchtfall“; BGHSt 17, 166 – „Arztfall“; BGHSt 32, 367 – „Wittig-Fall“; BGHSt 39, 164 – „Brandstiftungsfall“
Aufsätze: Geppert, Die unterlassene Hilfeleistung, Jura 2005, 39; Kargl, Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c). Zum Verhältnis von Recht und Moral, GA 1994, 247; Lenk, Die Strafbarkeit des „Gaffers“ gem. § 323c II StGB, JuS 2018, 229; Seelmann, „Unterlassene Hilfeleistung“ – oder Was darf Strafrecht?, JuS 1995, 281; Scheffler, Zur Strafbarkeit von Gaffern, NJW 1995, 232; Schmitt, Der Arzt und sein lebensmüder Patient, JZ 1984, 866
Übungsfallliteratur: Eidam, Klausur – Strafrecht: Sprühaktion mit Folgen, JA 2010, 601; Freund, Der praktische Fall – Strafrecht: Spritztour mit dem ultra krassem 3er BMW, JuS 2001, 475; Lindheim/Uhl, Hausarbeit – Strafrecht: Familiäre Tragödie, JA 2009, 783
Anmerkungen
Wessels/Hettinger/Engländer Rn. 1057; a.A. Joecks/Jäger § 323c Rn. 1.
BGH NJW 2002, 1356, 1357; Urteil vom 28. Januar 2021 – 3 StR 279/20; Lackner/Kühl § 323c Rn. 1; Geilen Jura 1983, 78.
Joecks/Jäger § 323c Rn. 3 f.; Wessels/Hettinger/Engländer Rn. 1057.
Aufgrund des 52. StrÄG vom 23. Mai 2017 (BGBl. I 2017, S. 1226).
Lenk JuS 2018, 229.
Lenk JuS 2018,