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Gleichzeitig sind das Kapitalmarktrecht und das Aktienrecht eng miteinander verknüpft[98]. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen dem Schutz des Anlegers (Kapitalmarktrecht) und dem Schutz des Aktionärs (Gesellschaftsrecht), wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. Insbesondere aufgrund der zunehmenden Überlagerung des Gesellschaftsrechts durch das Kapitalmarktrecht gewinnt dieses nicht nur für die Praxis des Gesellschaftsrechts, sondern auch für gesellschaftsrechtliche Klausuren an Relevanz.
1. Vorrang kapitalmarktrechtlicher Mitteilungs- und Publizitätspflichten
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Sowohl im Aktiengesetz als auch im Kapitalmarktrecht gibt es Melde- und Veröffentlichungspflichten. Dabei gilt ein Vorrang der kapitalmarktrechtlichen Mitteilungspflicht[99]. So gelten die Meldepflichten des Aktiengesetzes (§§ 20, 21 AktG) nicht für Aktien eines Emittenten iS der kapitalmarktrechtlichen Meldepflichtregelung des § 33 Abs. 2 WpHG[100] (§§ 20 Abs. 8 und 21 Abs. 5 AktG). Für diese finden ausschließlich die Bestimmungen des WpHG Anwendung. In den Rechtsfolgen sind die aktienrechtlichen und die kapitalmarktrechtlichen Regelungen angeglichen, sodass nach beiden die Rechte aus Aktien für die Zeit des Unterlassens der Mitteilung ausgeschlossen sind (Rechtsverlust, §§ 20 Abs. 7, 21 Abs. 4 AktG sowie § 44 WpHG).
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Zudem beeinflussen die kapitalmarktrechtlichen Mitteilungspflichten des WpHG aufgrund dieses Rechtsverlusts (§ 44 Satz 1 WpHG) insofern das Aktienrecht, als für die nicht gemeldeten Aktien damit ein Teilnahme- und Stimmrechtsausübungsverbot in der Hauptversammlung besteht[101].
2. Kapitalmarktrechtliche „Lösung“ bzgl Börsenrückzug (Delisting)
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Ein weiteres Beispiel für die Verknüpfung zwischen Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht ist das sog. Delisting[102], dh der Rückzug eines börsennotierten Unternehmens von der Börse[103]. Bei einem freiwilligen Delisting stellte sich lange Zeit die Frage des angemessenen Ausgleichs der Anleger/Aktionäre. Nunmehr hat sich der Gesetzgeber gegen eine gesellschaftsrechtliche Lösung, etwa durch eine Gesamtanalogie zu den §§ 305, 320b, 327b AktG und den §§ 29, 207 UmwG[104], entschieden. Das bedeutet, dass sich die Abfindung der Aktionäre nicht am Unternehmenswert orientiert und für eine Klage nicht der Zivilrechtsweg gegeben ist[105]. Vielmehr wurde eine „kapitalmarktrechtliche“ Lösung favorisiert, bei der sich die Abfindung nach dem Börsenkurs bemisst und hiergegen der Verwaltungsrechtsweg offensteht[106].
3. Vorrang der kapitalmarktrechtlichen Haftung vor Gläubigerschutz
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Der Emittent haftet für die rechtzeitige und vollständige Ad-hoc-Veröffentlichung von Insiderinformationen nach den §§ 97 und 98 WpHG[107]. Diese kapitalmarktrechtliche Haftung hat nach hM Vorrang vor dem aktienrechtlichen Gläubigerschutz, insbesondere dem Verbot der Einlagenrückgewähr (§ 57 AktG) und dem Verbot des Erwerbs eigener Aktien (§ 71 AktG)[108]. Eine kapitalmarktrechtliche Haftung soll nicht an diesen aktienrechtlichen Regelungen scheitern. Gerechtfertigt wird das in erster Linie mit dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori und dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali[109].
4. Unternehmensübernahmen
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Das WpÜG regelt die Unterbreitung eines öffentlichen Kaufangebots durch einen Erwerbswilligen (Bieter) an die Aktionäre der (Ziel-)Gesellschaft[110]. Es nimmt eine Zwitterstellung ein und ist zum einen Kapitalmarktrecht (zB Publizität und Verfahrensablauf von Übernahmeangeboten) und zum anderen (Börsen-)Gesellschaftsrecht[111] (zB Verhaltenspflichten der Organe)[112].
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Auch hier erfolgt eine Überlagerung des Aktienrechts durch kapitalmarktrechtliche Regelungen (hier: des WpÜG)[113]. Das WpÜG enthält einen stärkeren Minderheitenschutz, indem der Kontrollerwerber bei einem Kontrollwechsel den Minderheitsaktionären nach § 35 Abs. 2 WpÜG grds ein Pflichtangebot machen muss und diese daher ihre Aktien an den Kontrollerwerber abgeben können. Dagegen sieht das Aktien(konzern)recht eine solche Möglichkeit lediglich im engen Fall des Abschlusses eines Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags vor (vgl § 305 Abs. 1 AktG)[114]. Außerdem tritt im WpÜG bei Übernahmeangeboten eine Kompetenzbeschränkung bzgl der aktienrechtlichen Handlungsmöglichkeiten des Vorstands ein, indem er gemäß § 33 Abs. 1 WpÜG grds solche Handlungen zu unterlassen hat, durch die der Erfolg des Übernahmeangebots verhindert werden könnte.
5. Corporate Governance-Grundsätze
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Ausgangspunkt von Corporate Governance-Regeln waren „Richtlinien“ v.a. von anglo-amerikanischen institutionellen Anlegern, nach denen diese ihre Portfolioemittenten beurteilten. Die Regeln mündeten in institutsübergreifende Regelwerke und wurden zu einem „Code of Best Practice“ weiterentwickelt[115].
→ Definition:
Corporate Governance meint einen Ordnungsrahmen für eine erfolgsorientierte Unternehmensleitung und verantwortliche Unternehmensüberwachung[116] durch gesellschafts- und kapitalmarktrechtliche Standards (gute und verantwortungsvolle Unternehmensführung)[117].
In Deutschland wurde der „Deutsche Corporate Governance Kodex“ (DCGK) 2002 von der „Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex“ erstellt[118] und überarbeitet[119]. Er richtet sich an im regulierten Markt börsennotierte Gesellschaften und Gesellschaften mit Kapitalmarktzugang iSd § 161 AktG. Dessen Empfehlungen und Anregungen können aber laut der Präambel des DCGK auch nicht kapitalmarktorientierten Gesellschaften zur Einhaltung einer guten Unternehmensführung dienen. Die Arbeit an einem Europäischen Corporate Governance-Rahmen ist schon seit geraumer Zeit eingestellt[120].
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Neben internen, dh gesellschaftsrechtsbezogenen Corporate Governance-Regeln bestehen im Hinblick auf das Kapitalmarktrecht, v.a. die Unternehmenskontrolle, die externen Corporate Governance-Regeln. Die Corporate Governance-Grundsätze sind weder Rechtsnormen[121] noch im Handelsverkehr geltende „Gewohnheiten und Gebräuche“ iS des § 346 HGB, die im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zu berücksichtigen sind[122]. Auch wenn er damit grds unverbindlich und eine Überwachung der Kodexeinhaltung der freiwilligen Selbstregulierungskraft des Kapitalmarkts überlassen ist[123], erfolgt eine Kontrolle über das sog. Comply-or-Explain-Prinzip, wonach die Gesellschaften jährlich über die Befolgung bzw Nichtbefolgung der Soll-Empfehlungen des Kodex berichten müssen (§ 161 AktG).
Anmerkungen
Spindler, NJW 2004, 3449 („Kapitalmarktreform in Permanenz“); KölnerKommWpHG/Möllers/Leisch, §§ 37b, c WpHG Rn 22 („law in process“); siehe auch Kalss, EuZW 2015, 569 f („Implosion“).
Vgl Langenbucher, § 13 Rn 2.