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Bei der Auslegung sind auch die Empfehlungen, Hinweise und Leitlinien der ESMA[72] zu berücksichtigen (Level 3). Auch wenn diese rechtlich unverbindlich sind, haben sie faktisch großen Einfluss, da sich die ESMA iS einer Selbstbindung der Verwaltung grds nach diesen richtet[73], ihnen also norminterpretierender Charakter zukommt[74]. Die Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten (in Deutschland die BaFin) haben innerhalb einer Frist mitzuteilen, ob sie der jeweiligen Auffassung folgen[75]. Insofern haben die zuständigen Behörden und ggf die Marktteilnehmer „alle erforderlichen Anstrengungen“ zu unternehmen, um den Leitlinien und Empfehlungen nachzukommen[76]. Außerdem sind im Einzelfall die Questions and Answers (Q&A) der ESMA[77] sowie die FAQ (Häufig gestellte Fragen) der BaFin zu berücksichtigen.
3. Internationales Recht
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Auch internationales Recht kann Rechtsquelle für das deutsche Kapitalmarktrecht sein[78]. So sind inzwischen die (privaten) Regeln des internationalen Rechnungslegungsrechts, die IAS (International Accounting Standards) bzw die IFRS (International Financial Reporting Standards) von der EU mit der EU-Verordnung betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards[79] übernommen worden. Sie sind damit unmittelbar anwendbares Recht. Die US-amerikanischen Rechnungslegungsregeln, die US-GAAP (Generally Accepted Accounting Principles), sind dagegen für das deutsche Kapitalmarktrecht grds nicht relevant.
4. Private Regelungen und Richterrecht
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Regelungen im Rahmen der privaten Selbstregulierung können ebenfalls eine Rechtsquelle des Kapitalmarktrechts darstellen.
Beispiele:
Die Geschäftsbedingungen der Börsen, die AGB-Banken, AGB-Sparkassen, die Sonderbedingungen für Wertpapiergeschäfte bzw für Termingeschäfte sowie auf internationaler Ebene letztendlich auch die IFRS.
Ob das Richterrecht ebenfalls als Rechtsquelle angesehen werden kann, ist umstritten. Fasst man den Begriff der Rechtsquelle weit und bezieht das Richterrecht ein, kam diesem im Kapitalmarktrecht in der Vergangenheit v.a. in Bezug auf den grauen Kapitalmarkt und den dazu entwickelten individuellen Anlegerschutz durch eine zivilrechtliche Prospekthaftung[80] Bedeutung zu.
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Schaubild: Rechtsgrundlagen im Kapitalmarktrecht
IV. Kapitalmarktrecht zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht/Strafrecht
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In den kapitalmarktrechtlichen Gesetzen finden sich häufig sowohl Normen mit öffentlich-rechtlichem (aufsichtsrechtlichem) Charakter als auch solche, die strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Natur sind. Während die Zuordnung einer Regelung zu einer dieser „Gruppen“ teilweise unproblematisch möglich ist (zB das Insiderhandelsverbot des Art. 14 MAR als strafrechtliche Norm), ist deren Charakter bei anderen Bestimmungen streitig[81]. Ist die Abgrenzung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht schon im Allgemeinen umstritten[82], so erlangt dies im Kapitalmarktrecht aufgrund des „Normenmixes“ besondere Bedeutung. Die Rechtsprechung hat sich bislang keiner der zahlreichen Abgrenzungstheorien angeschlossen, sondern hebt auf die jeweilige Sachverhaltsgestaltung ab.
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Eine öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Doppelnatur der Normen ist jedenfalls abzulehnen[83]. Eine Abgrenzung der privatrechtlichen von den öffentlich-rechtlichen bzw strafrechtlichen Normen des Kapitalmarktrechts ist aus zahlreichen Gründen relevant. Ist eine kapitalmarktrechtliche Regelung als öffentlich-rechtlich einzustufen, kann sie etwa, anders als privatrechtliche Bestimmungen, als zwingendes Recht nicht rechtsgeschäftlich abbedungen werden[84]. Die Abgrenzung von Privatrecht und öffentlichem Recht spielt auch für die Frage nach dem Rechtsweg (ordentliches Gericht oder Verwaltungsgericht) eine Rolle.
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Regelungen des öffentlichen Rechts sind zB solche, bei denen Pflichten gegenüber der Aufsichtsbehörde zu erfüllen sind (zB § 40 WpHG, Veröffentlichungspflichten der börsennotierten Gesellschaft). Diese Eingriffsnormen lassen keine über die gesetzliche Grundlage hinausgehende Erweiterung zu[85].
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Eine Abgrenzung zu strafrechtlichen Regelungen respektive Bußgeldvorschriften ist v.a. im Hinblick auf eine mögliche analoge Anwendung einer kapitalmarktrechtlichen Norm erforderlich[86]. Denn bei Straf- und Bußgeldvorschriften gilt das Analogieverbot (Art. 103 Abs. 2 GG, § 3 OWiG)[87], sodass hier Auslegungsgrenze der mögliche Wortsinn ist. Innerhalb dieses Rahmens können historische, systematische und teleologische Gesichtspunkte berücksichtigt werden[88]. Fraglich ist, ob sich diese für die Strafrechtsnormen geltende Grenze auch auf die Auslegung des der Sanktion zugrunde liegenden Verhaltensgebots oder -verbots auswirken. Jedenfalls besteht das Analogieverbot in Bezug auf die zivilrechtlichen Wirkungen einer solchen Norm nicht[89].
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Umstritten ist, ob eine sog. gespaltene Auslegung in Betracht kommt. Teilweise wird das bejaht[90]. Die maßgebliche Auslegungs- und Normanwendungsmethode soll von der jeweils in Frage stehenden Rechtsfolge abhängen. Die Konsequenz ist, dass ein bestimmtes Verhalten einerseits zivilrechtlich verboten sein und damit zu einer Schadensersatzpflicht führen kann, andererseits aber straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlich mit dem Gesetz im Einklang steht[91]. Außerdem könnte eine aufsichtsrechtliche Regelung im Zivilrecht zu einer erweiterten analogen Anwendung führen[92]. Überwiegend wird aber zu Recht eine gespaltene Auslegung abgelehnt[93]. Begründet wird dies v.a. damit, dass eine sich über den Wortlaut einer strafrechtlichen Norm hinwegsetzende zivilrechtliche Auslegung (etwa im Rahmen des § 823 Abs. 2 BGB) de facto eine richterrechtliche Ausweitung des Schutzbereichs der Norm darstelle[94].
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Unklar ist, ob diese ablehnende Haltung auch in Bezug auf die europäischen Verordnungen zum Kapitalmarktrecht gelten kann[95]. Diejenigen, die hier eine einheitliche Auslegung favorisieren, weisen darauf hin, dass dies ansonsten eine Rechtszersplitterung zur Folge habe, da die Auslegung in den Mitgliedstaaten davon abhänge, ob die EU-Normen dort von einer strafrechtlichen oder nicht-strafrechtlichen Sanktionsnorm in Bezug genommen werden[96].
V. Das Zusammenspiel von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht
Ausgewählte Literatur:
Assmann, Überlagerung und Komplementierung des Aktienrechts nach dem Aktiengesetz 1965 durch Kapitalmarktrecht, AG 2015, 597; Bachmann, Kapitalmarktrecht im Kodex, WM 2013, 2009; Fleischer, Börseneinführung von Tochtergesellschaften, ZHR 165 (2001), 513; ders., Schnittmengen des WpÜG mit benachbarten Rechtsmaterien – eine Problemskizze, NZG 2002, 545; Lutter, Gesellschaftsrecht und Kapitalmarkt, in: FS Zöllner, 1. Bd., 1998, S. 363; Richter, Der Kapitalmarkt und sein Gesellschaftsrecht. Überlegungen zu einem kapitalmarktgemäßen Gesellschaftsrecht börsennotierter Gesellschaften, ZHR 172 (2008), 419.
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Das Kapitalmarktrecht und das Gesellschaftsrecht unterscheiden