16 Seither ist die Kriminologie im Kräftefeld zwischen wissenschaftlicher Autonomie und Praxisnutzen gefangen und bewegt sich darin auf unterschiedlichen Positionen. Dies hätte sich auch anders entwickeln können: Das theoretische Projekt einer akademischen Wissenschaft der gesellschaftlichen Normabweichung ohne strafrechtlichen Themen- und Relevanzbezug wäre ebenso möglich gewesen wie eine auf die Zulieferung nützlicher Informationen gepolte instanzenabhängige Institution ohne akademischen Anspruch.81
17 Die gesellschaftliche Beeinflussung der Kriminalität wird von dem französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) auf Modernisierungsprozesse in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft bezogen und führt zu einer eigenständigen Kriminalitätserklärung aus einem „anomisch“ genannten gesellschaftlichen Zustand (→ § 9 Rn 3 ff.). Ähnlich ambitiös ist die von dem Belgier Lambert Adolphe Quételet (1796-1874) in seiner „Physique Sociale“ von 1834/35 entwickelte Politische Arithmetik.82 In dieser „Sozialen Physik“ geht es darum, menschliche Handlungen, die einzeln betrachtet willkürlich erscheinen, in ihrer Gesamtheit zu studieren und dabei statistische Gleichförmigkeiten zu erkennen. Gerade bei der mengenmäßigen [40]Betrachtung von Verbrechen, bei denen man eigentlich annehmen würde, dass sie der menschlichen Voraussicht entgehen, sei eine auffällige Beständigkeit hinsichtlich Art und Häufigkeit, die Voraussagen erlaube, erkennbar. Der Gebrauchsnutzen der Kriminalarithmetik wird ausdrücklich darin gesehen, durch die Betrachtung der Kriminalität als aggregierte Datenmenge zu einem vernunftgerechten Einsatz der Ressourcen des Kriminaljustizsystems beizutragen:
„Es gibt ein Budget, das mit erschreckender Regelmäßigkeit bezahlt wird, nämlich das der Gefängnisse, der Galeeren und Schafotte. […] Wir können im voraus aufzählen, wie viele ihre Hände mit dem Blute ihrer Mitmenschen besudeln werden, wie viele Fälscher, wie viele Giftmischer es geben wird, fast so, wie man im voraus die Geburten und Todesfälle angeben kann, die einander folgen müssen.“83
18 Das Ende des 19. Jahrhunderts ist durch einen kometenhaften Fortschritt in den medizinischen und biologischen Wissenschaften geprägt. Charles Darwins (18091882) Theorie der Evolution kraft natürlicher Selektion wird von Herbert Spencer (1820-1903) auf das Prinzip des survival of the fittest zugespitzt und auf das Lebewesen Mensch und gesellschaftliche Prozesse übertragen. Dies bildet nunmehr den theoretischen Deutungsrahmen für die Entstehung von Kriminalität. Zudem kommt die für die Psychologie folgenreiche Vorstellung auf, Menschen verrieten ihre Charaktereigenschaften unbewusst durch die Art ihres Benehmens, durch ihre Körpersprache und Mimik. Die Zurückführung der Kriminalität auf dauerhafte und vererbliche Einflüsse der menschlichen Natur verdrängt nunmehr Spekulationen über gesellschaftliche Faktoren und wird zur dominanten monokausalen Kriminalitätserklärung. Die Identifizierung und Aussonderung von Individuen mit negativ bestimmten, als dauerhaft und vererblich eingeschätzten Eigenschaften ist ein seit der Antike bekanntes Mittel staatlicher Bevölkerungskontrolle, welches nunmehr zum Programm einer naturwissenschaftlich „rationalen“ staatlichen Kriminalitätsbekämpfung gemacht wird.84
19 Das Bemühen um methodische Tatsachenerkenntnis der biologischen Einflüsse auf Kriminalität führt zur Bildung der „positiven“ biologisch-anthropologischen Schule. Diese findet in den stark belegten Gefängnissen des 19. Jahrhunderts ein Observatorium, in dem der homo criminalis in Aussehen, Konstitution und Alltagsverhalten durch Verhaltensforscher und Ärzte studiert werden kann. Die dort mögliche Beobachtung dient der Optimierung der dem Strafvollzug zugedachten Wirkungen: In der Tradition der (wörtlich zu nehmenden) Korrektur-Anstalt und des Zucht-Hauses sucht man in den Strafanstalten Arbeitsdisziplin zu vermitteln. Damit soll innerhalb der Gefängnispopulation eine Auslese getroffen werden zwischen den an die Arbeitsmoral Anpassungsfähigen, die sich alsbald in Freiheit bewähren [41] dürfen, und den Unverbesserlichen. Prägend ist die Vorstellung, dass es neben besserungsfähigen die unverbesserlichen Straftäter gebe, die unschädlich zu machen seien. Von daher ist es nur folgerichtig, dass sich das Augenmerk der Kriminologie nunmehr auf die Identifizierung jener unverbesserlichen Straftäter richtet, deren Natur zum Verbrechen drängt.85
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Gründer und Leitfigur der positiven Schule ist der Veroneser Arzt Cesare Lombroso (1836-1909). Dieser entwickelt in seinem 1876 erschienenen Buch „L’uomo delinquente“86 das biologische Verständnis der Kriminalität zu einem in sich geschlossenen Erklärungsansatz mit wissenschaftlichem Anspruch. Die klassische Prämisse rational und willensfrei handelnder Individuen wird durch die Annahme ersetzt, menschliches Verhalten sei durch angeborene Charakterzüge determiniert. Die Menschen werden nicht als gleich verstanden, sondern unterschiedlichen Typen zugeordnet, von denen jeder eine bestimmte charakteristische Neigung zur Tugend oder zum Laster besitzt. Daraus folgt, dass die Kriminalität nunmehr täterbezogen erklärbar wird durch die mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu erlangende Erkenntnis jener Faktoren, welche die fundamentalen angeborenen Unterschiede zwischen den Kriminellen und den übrigen Menschentypen ausmachen.
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Untersuchungen an Sträflingen und teils gewagte, durch Darwins Evolutionstheorie inspirierte Mutmaßungen lassen Lombroso annehmen, Verbrecher seien an ererbten körperlichen und seelischen Anomalien wie fliehende Stirn, hohe Backenknochen, krauses Haar, Gemütlosigkeit, Grausamkeit, Hemmungslosigkeit und weitgehende Schmerzunempfindlichkeit erkennbar. Der Verbrecher verkörpere einen Rückfall in frühe Entwicklungsstadien der Menschheit, ein von tierähnlichen Trieben beherrschtes wildes, atavistisches Wesen. Aufgrund ihrer ererbten und daher unveränderlichen Anlage würde jedenfalls ein Teil der Delinquenten (bis zu 35 %) zwanghaft zum Verbrechen getrieben; diese verkörperten den anthropologischen Typus des „geborenen Verbrechers“.
„Wer uns bis hierher gefolgt ist, wird zugeben, dass viele Charaktere, welche die Wilden darbieten, sich sehr oft bei den geborenen Verbrechern finden, so z.B. die geringe Körperbehaarung, die geringe Schädelkapazität, die fliehende Stirn, die stark entwickelten Sinus frontales, die grosse Häufigkeit der Schaltknochen, die frühzeitigen Synostosen, das Vorspringen der Schläfenbogenlinie, die Einfachheit der Nähte, die grössere Dicke der Schädelknochen, die gewaltige Entwicklung der Kiefer und Jochbögen, die Prognathie, die Schiefe der Orbiten, die starke Pigmentation der Haut, das dichte krause Haar, die grossen Ohren, ferner der Lemuren-Fortsatz des Unterkiefers, die Anomalien des [42]Ohrs, das Diastem, die grosse Agilität, die Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindung, die hohe Sehschärfe, die Gleichgültigkeit gegen Verletzungen, die Gefühlsabstumpfung, die Frühzeitigkeit der sexuellen Regungen, die zahlreichen Analogien zwischen beiden Geschlechtern, die geringe Besserungsfähigkeit des Weibes (Spencer), die Faulheit, das Fehlen von Gewissensvorwürfen, die Haltlosigkeit, physisch-psychische Erregbarkeit, die Unvorsichtigkeit, welche manchmal wie Mut aussieht und der Wechsel von Wagehalsigkeit und Feigheit, die grosse Eitelkeit, die Spielleidenschaft und die Neigung zum Alkoholismus, die Gewalttätigkeit und die Flüchtigkeit ihrer Leidenschaften, der Aberglaube, die aussergewöhnliche Empfindlichkeit in Bezug auf die eigene Persönlichkeit und der besondere Begriff von Gott und von Moral.“87
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Die kriminalanthropologischen Studien Lombrosos sowie seiner Schüler Enrico Ferri (1856-1929) und Raffaele Garofalo (1851-1934) finden in der Fachwelt unterschiedliche Wertschätzung. Für die einen sind diese Studien eine Stammwurzel der empirischen täterbezogenen Kriminologie, der gerichtlichen Psychiatrie und der Rechtspsychologie.88 Für andere sind die vertretenen Annahmen grotesk und wissenschaftlich unhaltbar. Die Darstellung des geborenen Verbrechers wird verbreitet als eine zerrbildliche Kuriositätenmalerei verstanden, die den Mythos von der Bestialität des „Wilden“ in eine empirische Form zu bringen sucht. Bereits die Prämisse von der Wildheit als dem Ursprung des Bösen ist wissenschaftlich nicht begründbar, wie die Gegenposition von Friedrich Nietzsche (1844-1900) belegt, der den Gewaltüberschwang des Lebens nicht bloß als Ausdruck von Gesundheit, sondern gar von Moral versteht89. Zeitgenössische empirische