„Jeder empirisch-wissenschaftliche Satz (muss) durch Angabe der Versuchsanordnung u. dgl. in einer Form vorgelegt werden, dass jeder, der die Technik des betreffenden Gebiets beherrscht, imstande ist, ihn nachzuprüfen.“62
14 Nach dem von Poppers Kritischem Rationalismus geprägten Wissenschaftsverständnis der objektivierenden empirischen Forschung muss man sich als Kriminologe von seiner persönlich-moralischen Werthaltung zur Kriminalität dispensieren, muss sich auf die Aufstellung solcher Behauptungen („Hypothesen“) beschränken, die experimentell überprüfbar sind, d.h. an Erfahrungen scheitern können.
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Die Wahl eines bestimmten Wirklichkeitsausschnitts der Kriminalität – etwa Kriminalität als mögliches Ergebnis einer bestimmten biologischen Veranlagung oder einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur – ist im Kritischen Rationalismus Teil des unverbindlichen Entstehungszusammenhanges, in dem der Forscher nach seinen persönlichen Neigungen ein ihm anregend erscheinendes Thema wählt. Die Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens ergibt sich hingegen allein aus dem Begründungs- oder Rechtfertigungszusammenhang, in welchem die Beobachtungen und Schlussfolgerungen ohne subjektive Beimengung rein objektiv empirisch getestet und systematisch geprüft werden.
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Aber wie sollen ausgerechnet Kriminalität und Bestrafungsvorgänge, die doch eminente Leiden schaffen und heftiges Mitfühlen auslösen, völlig leidenschaftslos studiert werden können?
„Schon die heute häufig zu hörende Forderung, man solle das Verbrechen emotionslos betrachten, ist unpolitischer Irrealismus.“63
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Die kriminologischen Untersuchungsgegenstände sind jedenfalls keine rein wertneutral zugänglichen Präparate unter dem Mikroskop des Forschers, sondern Produkte menschlicher Handlung und Deutung, die der Forscher interpretativ erschließt und auf die er mit seiner Forschung verändernd einwirkt. Bereits die Wahrnehmung als erster Filter der empirischen Beschäftigung mit sinnlich erfassbaren Aspekten von Kriminalität ist vom Menschen als einem empathisch empfindenden Sozialwesen geprägt. Davor vermag auch das Bemühen um scheinbar „objektivierende“, menschliches Verhalten quasi naturwissenschaftlich erschließende Zugangswege nicht zu schützen. Zudem fließen bei der Wahl eines dem Forscher unter den Nägeln brennenden Themas interindividuell unterschiedliche Empfindungen und Assoziationen zum Kriminalitätsthema, das zwangsläufig mit spezifischen Emotionen verbunden ist, unvermeidlich mit ein (→ § 2 Rn 11).
„Der Unterschied zwischen Gesellschaft und Natur besteht darin, dass Natur nicht vom Menschen gemacht ist, nicht durch den Menschen erzeugt wurde. […] Die Gesellschaft […] ist nicht von einer einzelnen Person geschaffen worden, sie wird vielmehr (wenn auch nicht ex nihilo) durch die Teilnehmer eines jeden gesellschaftlichen Kontakts geschaffen und aufrechterhalten. Die Produktion der Gesellschaft ist eine auf Fertigkeiten beruhende, vom Menschen getragene und ‚geschehen gemachte’ Leistung. Sie ist nur möglich, weil jedes (kompetente) Gesellschaftsmitglied ein praktischer Gesellschaftstheoretiker ist; bei jeder Art von Kontakt, den es unterhält, greift es normalerweise ungezwungen und routinemäßig auf sein Wissen und seine Theorien zurück, und der Gebrauch dieser praktischen Ressourcen ist genau die Bedingung für die Herstellung gesellschaftlicher Kontakte überhaupt. [32]Solche Ressourcen … sind als solche vom theoretischen Standpunkt der Sozialwissenschaftler nicht zu verbessern, sondern werden von diesen im Laufe jeder Untersuchung, die sie durchführen, selbst in Anspruch genommen. D. h., die Beherrschung der Ressourcen, die Gesellschaftsmitglieder zur sozialen Interaktion befähigt, ist ebenso eine Voraussetzung für das Verstehen dieses Verhaltens durch den Sozialwissenschaftler wie sie es für jene Mitglieder selbst ist.“64
18 Die quantifizierende empirische Erfassung und Erklärung von „Sozialdaten“ bildet die soziale Welt nicht ab, sondern simuliert diese in einem Artefakt, dessen Struktur durch die empirische Recherchetechnik vorgegeben ist. Der dem naturwissenschaftlichen Experiment nachgebildete empirische Erfahrungstest reproduziert durch Verwendung von standardisierten Fragebögen und statistischen Auswertungsverfahren Individuen und ihr Handeln so, als ob es sich dabei um mikroskopische Präparate handelte, deren Merkmale objektiv messbar seien. Ausgeblendet bleiben dabei die nur verstehend erschließbaren Intentionen der Akteure kriminalisierter und kriminalisierender Handlungen, die intersubjektiven Wirkungszusammenhänge, die mitmenschlich nachfühlbare Leidensgeschichte von Opfern und Bestraften, kurz: die spezifisch menschliche Subjektivität von Kriminalität und Kriminalisierung. Die Umformung dieser Subjektivität in empirisch erfassbare Eigenschaften von Subjekten muss deren Handlungen als durch solche Eigenschaften im Sinne einer statistischen Wahrscheinlichkeit determiniert verstehen. Das Subjekt wird zum „Merkmalsträger“ und somit austauschbar gemacht, wobei die Summe der Merkmale das Verhalten der Subjekte zureichend und erschöpfend erklärt.65 Auch dies hat bereits Wittgenstein erkannt, indem er als Konsequenz der empirisch erklärenden Erkenntnishaltung festhält:
„Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht.“66
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Objektivierende quasi naturwissenschaftliche Versuchsanordnungen in der Kriminologie tragen dazu bei, den „Kriminellen“ als autonome Person zu vernichten.
„Par la connaissance scientifique, la société prend d’elle même une conscience réflexive: elle se voit, elle se décrit, elle voit dans le voleur un de ses innombrables produits; elle l’explique par des facteurs généraux. Quand elle a fini son travail, il ne reste plus rien de lui.“ 67
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Aus diesem Befund lassen sich mehrere Konsequenzen ziehen. Erstens besteht Bedarf für eine alternative verstehende kriminologische Erkenntnismethode, die
■ die Unvoreingenommenheit des Erkennens anders als durch das uneinlösbare Postulat strikter Wertfreiheit erstrebt;
■ die zu beobachtenden Subjekte als intentional handelnde Akteure und nicht als in ihrem Verhalten determinierte Objekte versteht;
■ die sich auf die Komplexität der zu erschließenden Wirklichkeit einlässt, anstatt die Wirklichkeit auf die mit standardisierten Erhebungsverfahren sichtbar zu machenden Merkmale zu reduzieren.
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Zweitens sind neben der dem Verstehensmodell folgenden qualitativen Forschung andere Zugangswege zu den Phänomenen von Kriminalität und Kriminalisierung von Interesse: Etwa die Strafrechtsgeschichte, die bildhaft und hautnah Kontrast- und Analogieerlebnisse zur aktuellen Situation zu vermitteln weiß.68 Die Romanliteratur, welche die menschlichen Aspekte von Kriminalität und Strafverfolgung veranschaulicht69 und uns in die Abgründe der Psyche von Tätern, Opfern und Verfolgern blicken lässt70. Die Poesie von Baudelaire, welche die „Blumen des Bösen“ zum Erblühen bringt.71 Die Gerichtsreportagen von Sling, dem Klassiker des Genres.72 Die Briefe aus dem Gefängnis von Vaclav Havel und Antonio Gramsci.73 Filme wie Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ und Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“. Oder nicht zuletzt ganz unvermittelt das Gespräch mit Inhaftierten, Opfern und deren hinterbliebenen Angehörigen.
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Angesichts der eminenten gesellschaftlichen Bedeutung des sich auf Kriminalität richtenden