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Darum kann die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, nicht mit der unbezweifelbaren Autorität einer „exakten“ Wissenschaft auftreten. Dennoch unterscheiden sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Kriminalität von unbelehrten und ungelehrigen Debatten am Stammtisch. Was die Wissenschaft auszeichnet, ist das reflexive Bewusstsein ihrer Perspektivengebundenheit, ihr Bemühen um Unbefangenheit und die diskursive Begründung ihrer Annahmen. Dies soll im folgenden Abschnitt deutlicher werden.
33 Sutherland/Cressey 1978, 21.
34 Comte 1975.
35 Der Begriff bezieht sich ursprünglich auf eine Praxis, die ohne Bezug auf Theorien sich auf wissenschaftlich erwiesene „Fakten“ stützen will, wird inzwischen aber auch für die empirische Wissenschaft selbst verwandt, die scheinbar theorieindifferent nach reinen „Fakten“ sucht.
36 Habermas 1967.
37 Sellars 1997, 117, sect. 63: „The myth of the given”.
38 Wittgenstein 1973, 8.
39 Reckwitz 2012, 15, 32.
40 Sack 1968, 469.
41 Ferell/Hayward/Young 2015, 1 ff.
42 Giddens 1984, 199.
43 Giddens 1984, 199.
44 Ferell/Hayward/Young 2015, 209 ff.
45 Diekmann 2010, 443 ff., 461 ff., 510 ff.; Flick 2012; Mayring 2016.
46 Sack 2003, 87.
47 Wittgenstein 1973, 107.
48 Kunz 2001.
[25]§ 3 Das Problem kriminologischer Unbefangenheit
Lektüreempfehlung: Kunz, Karl-Ludwig (2008): Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Ein Beitrag zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften. Wiesbaden, 35-53; Sack, Fritz (1996): Kriminalität dementieren – sonst nichts? KrimJ 28, 297-300.
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Nach dem vorherrschenden Erklärungsmodell (→ § 2 Rn 6 ff.) gilt es, „die Gesamtheit des Erfahrungswissens“49 zu sammeln und zu ordnen. Kriminologie wird so als Erfahrungswissenschaft verstanden, die sich auf die Beobachtung erhobener Fakten gründet und die gewonnenen Wahrnehmungen an theoriegeleiteten Hypothesen überprüft. Ziel ist die „Gewinnung eines festen Bestandes an gesichertem Wissen“50. Damit soll sich die Kriminologie zu einer „harten“ Wissenschaft entwickeln, die streng auf aussagekräftigen Beobachtungen beruht und damit evidence-based (→ § 2 Rn 8) verfährt.51
„Wie keine mir bekannte Einzeldisziplin zieht die Kriminologie mit dem Schwert der Empirie und der emphatischen Betonung der Erfahrung, der Tatsachen, der Beobachtung gegen theoretischen Anspruch und konzeptuelle Vorgängigkeit zu Felde, proklamiert, ja: klammert sich an einen wissenschaftlichen Induktivismus, den man in wissenschaftshistorischer Literatur wohl noch nachlesen kann, aus den aktuellen methodischen und methodologischen Anleitungen für die Werkstattarbeit gesellschaftlicher Analyse indessen vollständig verbannt findet.“52
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An sich ist es erwünscht und soweit möglich geboten, sich bei der wissenschaftlichen Annäherung an Kriminalität von der schillernden Ambiguität der Empfindungen zu lösen. Die Faszination der Kriminalität, ihr geheimnisvoller und leidenschaftlicher Gehalt, löst in uns wie kaum sonst ein Thema Empfindungen des Mitgefühls und der Abscheu, der Neugier und der Verängstigung aus, deren Widerstreit nicht zum Ende kommt, sondern sich problembezogen immer wieder neu entzündet. Kriminalität ist mit zwiespältigen Empfindungen verbunden: mit Entrüstung und heimlicher Bewunderung, Betroffenheit und Schadenfreude, mit Nachsicht und Racheverlangen. Die von der Kriminalität in uns ausgelöste Erregung (ver)leitet unsere Wahrnehmungsgabe, (ver)führt uns zu einseitigen Schlüssen, macht uns in Vorurteilen befangen. Unsere subjektiven Vorstellungen über Kriminalität sind stark durch unsere Lebensgeschichte und durch persönliche Erlebnisse in Rollen wie denen des Opfers, des mitfühlenden Angehörigen, des spitzbübisch über ein gelungenes Ganovenstück sich freuenden Zeitungslesers geprägt. Die subjektive [26]Wahrnehmung und Einstellung zur Kriminalität ist kontextabhängig. Dieser Kontext ist anderen kaum je vollständig vermittelbar, ist vielfach uns selbst gar nicht bewusst. Eigene Wahrnehmung vermischt sich in der Erinnerung mit Berichten vom Hörensagen. Unmittelbare Erfahrungen werden überlagert durch vielerlei Aufarbeitungen des Themas in Presse und Literatur, auf die wir je nach Geschmack zurückgreifen und die unser Vorstellungsbild unterschiedlich prägen. All dies erschwert einen möglichst vorurteilslosen, allgemein nachvollziehbaren Zugang zum Thema.53
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Das wusste man schon in der Zeit der Aufklärung, als das Programm einer Wissenschaft vom Verbrechen erstmals verkündet wurde (→ § 4 Rn 2). In der Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ zeigt Friedrich Schiller (1759-1805), wie die Unterdrückung des Individuums durch Gesellschaft und Justiz dieses zum Verbrecher werden lässt. Er plädiert für eine unemotionale, wissenschaftliche Analyse des Verbrechens. Anstatt das Herz des Lesers durch hinreißenden Vortrag zu bestechen und damit die republikanische Freiheit des lesenden Publikums zu beleidigen, müsse die Kriminalität mit nüchterner Sachlichkeit beschrieben werden. Die wissenschaftliche Befassung mit der Kriminalität ist für Schiller eine umfassende Menschheitswissenschaft, die über menschliches Verhalten und seine gesellschaftlichen Bedingungen am besonders aufschlussreichen Extrembeispiel der Kriminalität generelle Aussagen trifft. Dem gemäß beginnt die Erzählung in der ersten Fassung wie folgt:
„Die Heilkunst und Diätetik, wenn die Ärzte aufrichtig sein wollen, haben ihre besten Entdeckungen und heilsamsten Vorschriften vor Kranken- und Sterbebetten gemacht. Leichenöffnungen, Hospitäler und Narrenhäuser haben das helleste Licht in der Physiologie angezündet. Die Seelenlehre, die Moral, die gesetzgebende Gewalt sollten billig diesem Beispiel folgen und ähnlicherweise aus Gefängnissen, Gerichtshöfen und Kriminalakten – den Sektions-berichten des Lasters – sich Belehrungen holen.“54
In der endgültigen Fassung heißt es nicht minder prägnant:
„In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.“55
4 Ausdruck eines solchen über ihre unmittelbaren Studienobjekte hinausweisenden Verständnisses der Kriminologie als umfassende Menschheits- und Gesellschaftswissenschaft ist die Ablösung der Bezeichnungen „Krimineller“ und „Kriminalität“ durch den Begriff des „abweichenden“ oder „devianten“ Verhaltens. Damit soll von [27] einer einseitig negativen, stigmatisierenden Wertung Abstand genommen und ein unbefangener, sich moralischer Parteinahme enthaltender Zugang erleichtert werden. Zugleich werden damit Verbindungslinien gezeichnet zu anderen, nicht strafbaren sozialen Auffälligkeiten. Mag es sich auch um eine zunächst gekünstelt wirkende Beschreibung handeln – das Verständnis der Kriminalität als sozial abweichendes Verhalten, dessen Eigenart allein in der Abweichung von gesellschaftlich herrschenden Normen besteht, ist eine tragfähigere Basis für eine Wissenschaft, die sich dem Anspruch eines möglichst vorurteilsfreien Studiums stellt.
5 In der Regel wird die gebotene wissenschaftliche Unbefangenheit sehr radikal