6 Dies gilt für die Kriminalität so nicht. Sie ist nie reines Objekt, das unabhängig vom erkennenden Subjekt existierte und – nur deshalb und nur dann – in theoretischer Distanz streng „wertneutral“ analysiert werden könnte. Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Gegenstand, an dem Forschende als gesellschaftliche Subjekte immer schon je spezifisch Anteil haben, und den sie aus ihrer je besonderen persönlichen Perspektive wahrnehmen. Eine völlige Befreiung von dieser Perspektive, die den Forscher gleichsam auf einen fremden Stern versetzen und ihm dadurch den objektiven Blick auf die Gesellschaft verschaffen würde, ist weder möglich noch zur Erlangung der gebotenen Unbefangenheit nötig. Strenge „Objektivität“ bedeutet die Illusion der Möglichkeit eines Blicks von Nirgendwo.57 Stattdessen geht es darum, angesichts der zwangsläufigen Eingebundenheit des Forschenden in eine spezifische Lebenspraxis, welche auch spezifische Vorstellungen über Kriminalität vermittelt, Unbefangenheit herzustellen: Es gilt, sich bei wissenschaftlichen Aussagen über Kriminalität die Subjektivität seiner lebenspraktischen Einstellung zu dem Thema reflexiv bewusst zu machen, sich so gut wie möglich davon im Erkenntnisvorgang zu distanzieren, sich für Deutungsmöglichkeiten zu öffnen, die von dem eigenen Vorstellungsbild abweichen, und quer zu antrainierten Mustern zu denken.
[28]7
Gefordert ist etwa eine verantwortliche Haltung, die das eigene Forschungsprojekt, seine leitenden Annahmen und die methodischen Aussagemöglichkeiten skrupulös transparent macht. Zudem ist das Beurteilungsfeld über die individuelle Lebenswelt und die eigene Erfahrung hinaus zu erweitern, indem andere Wahrnehmungen aufgenommen und andere Verständnisse aufgegriffen werden. Ferner ist das der eigenen Lebenswelt entstammende Verständnis menschlicher Intentionalität zu ergänzen durch ein „systemisches“ Verständnis der Sozialwelt in ihren Vernetzungen und Interaktionen. Vor allem aber ist eine bewusste Distanzierung von vertrauten Perspektiven gefordert.
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Kriminologen gewinnen in dem Maße wissenschaftliche Unbefangenheit, wie es ihnen gelingt, die Selbstevidenz vertrauter Kriminalitätswahrnehmungen zu meiden, sich von routinemäßigen Denkhaltungen zu befreien und am gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität gleichsam wie irritierende Fremde teilzunehmen, welche Fragen stellen, auf die andere nicht kommen. So lässt sich die Wissenschaftlichkeit der Kriminologie in ähnlicher Weise bestimmen, wie Zygmunt Bauman (*1925) dies für die Soziologie tut. Damit distanziert sich dieses Verständnis wissenschaftlicher Unbefangenheit deutlich von dem Postulat des „wertfreien“ Erkennens.
„To think sociologically can render us more sensitive […]. It can sharpen our senses and open our eyes to new horizons beyond our immediate experiences in order that we can explore human conditions which, hitherto, have remained relatively invisible […] Sociological thinking, as an anti-fixating power, is therefore a power in its own right. It renders flexible what may have been the oppressive fixity of social relations and in so doing opens up a world of possibilities. The art of sociological thinking is to widen the scope and the practical effectiveness of freedom. When more of it has been learnt, the individual may well become just a little less subject to manipulating and more resilient to oppression and control. They are also likely to be more effective as social actors, for they can see the connections vetween their actions and social conditions and how those things which, by their fixity claim to be irresistible to change, are open to transformation.“58
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Der in den Sozialwissenschaften unhaltbare Rigorismus eines „wertfreien“ Erkennens vermittelt allerdings den trügenden Eindruck, die Sozialwelt sei als eine Fülle vermeintlich naturalistisch beobachtbarer „Befunde“, „Daten“ oder „Tatsachen“ vorgegeben. Diesem Eindruck entspricht die Vorstellung, die erhobenen Beobachtungen ergänzten einander und würden, Mosaiksteinchen ähnlich, sich à la longue zu dem linearen Gesamtbild eines gesicherten Wissensbestandes zusammenfügen.
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Diese Vorstellung eines schrittweisen Erkenntnisfortschritts durch quantitatives Wissenswachstum wäre nur in dem Maße zutreffend, wie homogene Erkenntnisraster verwandt und Beurteilungen getroffen würden, über die in der Forschergemeinschaft Konsens bestehen. Indessen ist – abgesehen davon, dass schon im Allgemeinen das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Teile – jede Erhebung von Daten theoriegeleitet. Die jeweils gewählten methodischen Instrumente bestimmen die Untersuchungsanordnung, die sich notwendig auf die Prüfung bestimmter Aspekte des zu untersuchenden Phänomens beschränkt. Jede empirisch gestützte Aussage über Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen enthält implizit eine aus den Beobachtungen nicht mehr ableitbare Behauptung darüber, dass die Aussage einstweilen durch Erfahrung hinreichend gestützt und als gültig anzusehen sei. Die theoriegeleitete Wahl des Untersuchungsfeldes und die Entscheidung, gewonnene Ergebnisse als vorläufig verbindlich zu akzeptieren, verlangen wertende Entschlüsse, die nicht erfahrungswissenschaftlich begründbar sind, sondern nur in dem Masse Gültigkeit beanspruchen, wie sie diskursiv begründet, argumentativ belastbar und von der Gemeinschaft der Forschenden akzeptiert sind. Ein solcher Konsens besteht allenfalls innerhalb einer der verschiedenen Strömungen der kriminologischen Forschergemeinschaft.
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Die Vorstellung eines einheitlichen, sich zu einem geschlossenen zweidimensionalen Gesamtbild formenden kriminologischen Datenbestandes wird nicht zuletzt durch die dissonante Entwicklungsgeschichte des Fachs im Zielkonflikt zwischen akademischem Anspruch und Wissenszulieferung für den institutionellen Umgang mit Kriminalität widerlegt. Der Mangel an einer konsistenten „Disziplinarität“ und das Fehlen einer selbstbewusst in sich ruhenden Geschlossenheit zeigen sich in hitzigen Richtungsstreitigkeiten und der Anfälligkeit für die Übernahme intellektueller Modetrends.59 Das Verständnis eines einheitlichen kriminologischen Wissensbestandes ist nicht wissenschaftlich begründet, sondern entspringt dem Streben nach Reputation bei den Agenten der Kriminalpolitik. Nur als Produktionsstätte eines bedarfsgerecht einheitlich zu präsentierenden „Erfahrungswissens“ (→ § 1 Rn 10) kann die Kriminologie die Rolle als neutraler Lieferant wertfreier Informationen zur Vorbereitung von Entscheiden der praktischen Kriminalpolitik spielen. Der von der kriminologischen Bedarfsforschung erweckte falsche Anschein der strikt wertneutralen Politikberatung verbirgt nach Foucault eine „geschwätzige und aufdringliche“ Anbiederung an die offizielle staatlich dominierte Kriminalpolitik:
„Haben Sie schon Texte von Kriminologen gelesen? Da haut es Sie um. Ich sage das nicht aggressiv, sondern erstaunt, weil ich nicht verstehen kann, wie dieser Diskurs der Kriminologen auf diesem Niveau bleiben konnte. Er scheint für das System so nützlich und notwendig [30] zu sein, dass er auf theoretische Rechtfertigung oder methodische Konsistenz verzichten zu können glaubt. Er ist einfach ein Gebrauchsartikel.“60
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Im Bemühen um eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis wurde um die Jahrhundertwende von Anhängern des sogenannten Logischen Empirismus die Auffassung vertreten, werturteilsbehaftete moralische Aussagen seien schlechthin unzulässig. Diese Auffassung kommt im Frühwerk von Wittgenstein, der sich von seinen eigenen grundlegenden Annahmen später weitgehend distanziert hat, in nicht zu überbietender Prägnanz zum Ausdruck:
„Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“61
13 Diese rigoros metaphysikfeindliche These wurde im Kritischen Rationalismus von Karl Popper (1902-1994)