Ich bin mir sicher, es liegt an diesen Wolken.
Bei dem Wetter wird mir der Hibiskus eingehen. Dabei steht er gerade in voller Blüte.
04. Juli, Illington
Der Regen wird immer stärker. Seit über einer Woche hat die Sonne nicht mehr geschienen und der Rasen hinter dem Haus ist so stark überschwemmt, dass ich heute Morgen Sandsäcke vor die Terrassentür legen musste.
Immer mehr Menschen im Café klagen über Müdigkeit und Lustlosigkeit. Ab morgen werde ich eine große Kanne Jasmintee zubereiten, für jeden Gast, der möchte.
Aber da ist noch etwas anderes, das nichts mit dem Regen zu tun hat. Etwas liegt in der Luft. Mein Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt, wird von Tag zu Tag schlimmer.
Es ist etwas Böses, das sich uns da nähert.
05. Juli, Illington
Die Kopfschmerzen werden stärker. Ich habe mir einen Sud aus Pfefferminze und Lavendel gekocht und mich noch einmal hingelegt.
Seit heute hängt Nebel über dem Düsterwald und er kriecht auf unser Dorf zu. Das gefällt mir nicht!
Die Menschen bewegen sich wie Schlafwandler. Sie kommen kaum noch ins Café und wenn, schaffen sie es gerade noch so, etwas zu bestellen.
Mir fehlt die fröhliche Lautstärke in meinem Laden.
Eli war seit drei Tagen nicht mehr bei mir und bei ihr zu Hause geht niemand ans Telefon. Ich mache mir große Sorgen!
Der arme Hibiskus lässt die Köpfe hängen.
06. Juli, Illington
Heute Morgen hatte ich Nasenbluten und der Nebel, der Illington über Nacht verschluckt hat, lastet wie Blei auf mir. Elena war wieder da. Sie saß die meiste Zeit schweigend am Tisch, über ihre Tasse (wieder Lindenblüten und Rosmarin) gebeugt und hat ins Leere gestarrt.
Ich werden einen Schutzzauber wirken müssen!
Eisige Wellen überrollen mich, denn ihre Einträge wecken Bilder in mir, die ich vergessen wollte. Aber das ist es.
»Emma. Das ist es«, wiederhole ich laut und wedele mit Tillys Tagebuch. »Ihr Tagebuch! Hier schreibt sie über die Tage im Juli, als die Seelenhexe unser Dorf angegriffen hat. Schau.« Ich bin aufgeregt, dennoch bemerke ich das kalte Prickeln, das mir den Nacken hochkriecht. Ihre Worte hören sich so grausam an, wie in einem Albtraum, aber ich weiß, dass sie real sind. Dass alles wirklich geschehen ist.
Emmas Haare kitzeln mich an der Schulter, als sie vornübergebeugt liest. Ihre Lippen bewegen sich schnell beim Lesen und ihre Augen werden mit jedem Satz größer.
»Schutzzauber? Was meint sie damit?«, fragt sie stirnrunzelnd.
»Keine Ahnung.« Ich seufze. Das tue ich oft in letzter Zeit, wenn ich keine Antwort auf eine Frage habe und wir haben viele ungeklärte Fragen. »Hier sind noch ein paar Tagebücher.«
Außer dem, das ich aufgeklappt auf dem Schoß liegen habe, sind noch zwei weitere in Leder gebundene Büchlein in der Kiste. Dick und schwer liegen sie in der Hand. Tillys Tagebucheinträge sind in ihrer feinen, leicht nach rechts geneigten Handschrift verfasst.
Eine Weile lesen wir schweigend in den Notizen und es ist nur ab und zu das Rascheln von Papier zu hören, wenn wir umblättern.
»OH. GROßER. SCOTT. Schau dir das an!« Emma hält mir eine aufgeschlagene Seite hin und deutet auf den Satz ganz am Ende. Ich schnappe nach Luft.
»Tilly war eine Hexe. Eine richtige Hexe.«
Diese Information braucht eine Weile, bis sie richtig an Bedeutung gewinnt. Nicht die Tatsache, dass es Hexen gibt, überrascht mich, auch nicht, dass Tilly eine war, nein, es überrascht mich, dass ich nicht von selbst auf den Gedanken gekommen bin. Wenn jemand eine Hexe war, dann Tilly Dawson.
»Glaubst du sie war … war … also…« Offensichtlich findet Emma nicht die richtigen Worte. Ihr scheint das Thema unangenehm zu sein, denn sie nestelt an ihrem Lederarmband herum, um Zeit zu schinden. Sie verzieht das Gesicht zu einer gequälten Maske, atmet ein und sagt dann: »Glaubst du, sie war eine von den Guten?«
Erschrocken reiße ich die Augen auf. Wie meint sie das?
»Emma! Du willst doch nicht sagen, dass Tilly wie sie war, oder?«
Emma wird flammendrot im Gesicht und beißt sich auf die Unterlippe. »Keine Ahnung. Nimm es mir bitte nicht übel, aber es ist alles so seltsam. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll. Ich habe Angst«, fügt sie dann leiser hinzu.
Wie sie vor mir sitzt, die Schultern hochgezogen, den Blick abgewendet, verfliegt mein Ärger wieder. Wie könnte ich es ihr auch übelnehmen, dass sie sich Sorgen macht. Ganz nah rutsche ich an Emma heran, bis ich ihr einen Arm um die Schultern schlingen kann und sage: »Nein, ich bin mir ganz sicher, sie war eine von den Guten.«
Unvorstellbar, dass es anders sein könnte. Ein Ruck geht durch Emmas Körper und sie richtet sich auf.
»Warte mal. War sie nicht mit deiner Freundin Elena verwandt? War sie dann auch eine Hexe?«
Elena? Eine Hexe?
»Keine Ahnung. Nicht, dass ich wüsste.«
»Kann es sein, dass sie es dir verheimlicht hat?«
Der Gedanke stößt mir sauer auf. »Nein. Eher nicht. Wirklich, Emma, sie war nicht der Typ für Geheimnisse. Außerdem hat sie sich ständig über ihre Tante lustig gemacht.«
Emma winkt ab. »Ist ja auch nicht so wichtig. Ich lese mal weiter.«
Jetzt ergibt auch der Satz über den Schutzzauber einen Sinn, denke ich und blättere zu der Seite zurück. Was hat sie zu mir gesagt, als ich sie schon fast tot im Hinterzimmer ihres Cafés gefunden habe? Ich schließe die Augen, versuche mir die Szene in Gedanken vorzustellen und lecke mir über die Oberlippe. Sie lag auf dem Boden, Blut lief ihr aus der Nase. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Sie hat gesagt, dass sie versucht hat, die Seelenhexe aufzuhalten. Vermutlich mit diesem Schutzzauber. Wenn Tilly eine Hexe war und wenn diese Art von Schutzzauber tatsächlich existiert, gibt es Möglichkeiten, Wesen wie die Seelenhexe mit Magie zu bannen. Denn daran, dass es nicht nur Seelenhexen und weiße Hexen wie Tilly gibt, glaube ich mittlerweile. Magie, Schutzzauber, Hexen … Jahrelang habe ich in einer Welt gelebt, von der ich dachte, sie sei die einzige. Habe über Leute wie Tilly, die an Übernatürliches glauben, gelacht und war sicher, dass die Monster unter meinem Bett nur Hirngespinste sind. Wie leicht man die Augen vor etwas verschließen kann, das nicht rational erklärbar ist und einem Angst macht und doch direkt vor einem ist.
»Schau mal.« Emmas Stimme holt mich zurück in unser Hotelzimmer. Erneut hält sie mir das Tagebuch hin und lässt mich die Stelle lesen, in der Tilly beschreibt, dass das Hexengen manchmal einige Generationen überspringt und willkürlich auftauchen kann, ohne dass dabei ein Muster zu erkennen ist.
»Das würde immerhin erklären, warum Elena keinen Funken Magie in sich getragen hat. Schreibt Tilly irgendwo, wie ihre Hexenkräfte aussahen?«
Emma schüttelt ihre rosafarbenen Haare. »Bisher nicht. Dieses Tagebuch ist teilweise echt langweilig. Oft beschreibt sie nur, was sie wem gegen irgendein Wehwehchen verabreicht hat. Sie war eine richtige Kräuterhexe.«
Nicht nur das, denke ich und blättere weiter durch die Seiten. Sie riechen ganz leicht nach Tilly »Dieses hier ist ziemlich deprimierend«, sage ich und schlage das Büchlein zu. Ich habe nicht vor, weiter darin zu lesen, sonst ist mein Vorsatz keine trüben Gedanken zuzulassen, hinfällig.