Jenny stemmt die Hände in die Hüften. Ihre Miene verrät nicht, was sie denkt, und ich befürchte schon, mit meiner forschen Art zu weit gegangen zu sein. Dann wirft sie sich das Geschirrtuch über die Schulter, nimmt das volle Tablett hoch und nickt uns zu.
»Setzt euch doch erstmal und dann erzählt ihr mir, woher ihr Tilly Dawson kennt.«
Kurz durchzuckt mich Schmerz bei der Art wie sie ihren Namen ausspricht. Es fühlt sich an wie eine halbe Ewigkeit, dass jemand anderes als Emma oder ich diesen Namen ausgesprochen hat. Ein klein wenig fühlt sich dieser vertraute Name an, wie heimkommen und dadurch tut es umso mehr weh, da ich weiß, dass er nur ein Echo ist. Die verrückte, lebensfrohe und entschlossene Tilly wird nie wieder sein. Mir kein einziges Mal mehr Tee kochen oder Bonbons zustecken.
Erneut nehmen wir auf den hohen Stühlen vor dem Tresen Platz. Ich kann mir nicht helfen, muss mich einfach umsehen, in diesem Laden, der mir einst so vertraut war, wie mein eigenes Zimmer. Ich bemerke all die kleinen Veränderungen, die mich jedes Mal zusammenzucken lassen und auch das, was sich nicht verändert hat. Verhalten blinzle ich eine Träne weg, die sich in meinen Augenwinkel gestohlen hat. Jenny marschiert in ihrem rosa Tweet durch den Laden, verriegelt die Tür und dreht das Geöffnet-Schild auf ›Geschlossen‹. Emma und ich wechseln einen nervösen Blick. Ihrer sagt Ich hoffe, du weißt was du tust. Aber ich bin mir da nicht sicher. Obwohl ich Elena früher für die Impulsivere und Sprunghaftere von uns beiden gehalten habe, scheine ich jetzt diese Rolle eingenommen zu haben.
Jenny stellt zwei Gläser Limonade vor uns ab.
»Geht auf‘s Haus. Und jetzt raus mit der Sprache. Wer seid ihr?«
Emma zwickt mir leicht in den Oberschenkel und warnt mich, nicht zu überstürzt an die Sache ranzugehen. Also wölbe ich die Hände um mein Glas, um Zeit zu schinden, und halte den Blick gesenkt. Nach kurzem Zögern sage ich: »Vor einer Weile habe ich mal hier gewohnt und bin mit Tilly Dawsons Nichte zur Schule gegangen. Wir waren ganz gut befreundet und auch ihre Tante mochte ich sehr gerne.« Ich habe mal gelesen, dass man beim Lügen so nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben soll.
»Als ich gehört habe, was hier passiert ist, da …« Ich breche ab. Dieses Mal ist mein Zögern nicht gekünstelt, es tut wirklich weh. Wieder brennen meine Augen.
»Da musstest du einfach herkommen. Liebes, ich verstehe dich.«
Ich bin so überrascht von ihrer Reaktion, dass ich den Kopf hebe und ihrem mitfühlenden Blick begegne. Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen, doch da ich so gut wie die Wahrheit gesagt habe, gibt es dafür eigentlich keinen Grund.
»Aber wieso willst du ihre Sachen sehen?«
Das ist eine gute Frage. Und leider habe ich keine Antwort darauf.
»Ach, einfach so«, murmle ich.
»Du hast doch gesagt, dass Tilly ein paar wertvolle Bücher besessen hat, an denen dein Vater interessiert ist.« Emma kneift mir wieder in den Oberschenkel und ich bemühe mich, ein nicht allzu fassungsloses Gesicht zu machen.
»Mein Vater?«
»Ja, dein Vater. Wissen Sie«, Emma wendet sich Jenny zu, »der Vater meiner Freundin ist Antiquitätenhändler und hat früher schon versucht, Tilly ein gutes Angebot für ein paar besondere Ausgaben zu machen. Er möchte nicht taktlos sein, aber er hat wirklich großes Interesse. Deshalb hat er uns hergeschickt, in der Hoffnung, dass die Bücher vielleicht noch da sind.«
»Mein Vater ist Antiquitätenhändler«, wiederhole ich wie ein Papagei. Glücklicherweise fragt Jenny im gleichen Moment: »Kommst du auch von hier?«
»Ich? Nein, nein. Aber ich bin schon lange mit ihr befreundet.«
Emmas plötzliche Courage überrascht mich ziemlich und ich starre sie an, bis sie mich zum dritten Mal kneift. Heute Abend wird mein Oberschenkel voller kleiner Flecken sein, wenn das so weiter geht.
»Und jetzt sind wir hier.« Emma lacht verlegen und hebt die Hände. Ihr neu entdeckter Enthusiasmus scheint sich wieder zu verabschieden und für eine Weile herrscht Stille.
Ich bin unsicher, ob es klug ist, noch etwas zu sagen oder ob ich nicht besser den Mund halten soll. Emma hat ein so wackeliges Gerüst aus Unwahrheiten gebaut, dass ich Angst habe, es zum Einsturz zu bringen. Ein falsches Wort und wir fliegen schneller aus dem Laden, als ich ›Geheimnis‹ sagen kann. Der Moment zieht sich quälend langsam in die Länge. Vorsichtig lächle ich Jenny an, doch es fühlt sich so unecht an, dass ich es schnell wieder bleiben lasse.
»Ihr habt Glück. Vor lauter Stress, das Café zu eröffnen, bin ich noch nicht dazu gekommen Tilly Dawsons Habseligkeiten wegzuschmeißen. All ihre Sachen sind im Keller. Ihr könnt euch gerne umschauen.«
Heute scheint das Glück ausnahmsweise einmal auf unserer Seite zu sein, denke ich, als ich Jenny, mit Emma auf den Fersen, in den kalten Keller folge.
»Wieso sind Sie denn eigentlich nach Illington gezogen?«, frage ich. Tatsächlich kann ich mir nicht im Entferntesten vorstellen, an einen Ort zu ziehen, der vor wenigen Wochen noch eine Geisterstadt war. Vor allem dann nicht, wenn eine Seuche für das plötzliche Aussterben verantwortlich gemacht wird.
»Neugierig bist du ja schon. Nicht wahr? Aber ich schätze, es ist nichts dabei, wenn ich es euch erzähle. Schließlich wart ihr ja auch ehrlich zu mir.«
Auf halbem Weg die Treppe hinab bleibt sie stehen und mustert uns nachdenklich.
»Ich habe vor Kurzem ein hübsches Sümmchen geerbt und die Preise hier waren sehr günstig. Obwohl ich mir schon ein paar Gedanken gemacht habe, konnte ich nicht widerstehen, hier einen Neuanfang zu wagen.«
Aha, denke ich.
Jenny fängt meinen Blick auf und gibt ein kurzes Lachen von sich. »Nein, Schätzchen. Nicht so wie du denkst. Blackville, mein Heimatort, ist winzig klein. Er liegt an den Ausläufern der Jonny-Jigger-Hills in einer Senke, über der sich fast permanent Wolken verfangen, und ist so verschlafen, dass dort schon um fünf Uhr nachmittags die Bürgersteige hochgeklappt werden. Der einzige Pub in der Nähe ist nur mit dem Auto zu erreichen und entweder wird man Hausfrau oder kümmert sich um die Tiere auf den umliegenden Höfen. Das war kein Leben für mich und nachdem meine Mutter, Gott hab sie selig, verstorben ist, hat mich dort nichts mehr gehalten.«
So einfach diese Erklärung auch ist, sie hat mich überzeugt und ich brumme zustimmend.
Jenny zieht an einer Schnur und helles Licht flackert auf. Der Keller ist vollgestopft mit Kartons, Tüten und am Boden herumliegendem Krimskrams.
»Schaut euch um. Wenn ihr etwas braucht, ruft mich.«
»Sie lassen uns einfach mit den Sachen alleine?« Emma spricht aus was ich denke.
Jenny lacht und winkt ab. »Hier unten steht nichts, was mir gehört. Vermutlich hätte ich mir noch nicht einmal die Mühe gemacht, all das Zeug durchzuschauen und es einfach abholen lassen. Wenn ihr glaubt, hier unten etwas Wertvolles zu finden, dann nehmt es einfach mit.«
Ein »Aber warum?«, kann ich mir dennoch nicht verkneifen.
Jenny stemmt die Hände in die Hüften. »Willst du dir die Sachen jetzt ansehen, Mädchen, oder nicht? Ihr zwei seht nicht unbedingt aus wie zwei Rumtreiberinnen und wie ich bereits gesagt habe, mir bedeuten diese Sachen nichts.«
»Findest du nicht auch, dass diese Jenny irgendwie komisch ist?«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Meinst du, noch komischer als wir?«
»Ha, ha. Nein, im Ernst. Bilde ich mir das nur ein oder wirkt sie … unecht?«
Kurz denke ich darüber nach. Auch mir ist aufgefallen, dass etwas mit Jenny nicht stimmt, aber was kümmert uns das schon? Ich schiebe den Gedanken fort und zucke mit den Schultern. Dann wende ich mich den Dingen zu, die Jenny hier heruntergebracht hat und schüttle nachdrücklich den Kopf. »Nee.« Emma ist immer gleich verschreckt, wenn etwas in der Luft liegt und wir können es jetzt gerade nicht gebrauchen, dass sie einen Rückzieher macht.
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