Langsam drehe ich mich im Kreis, frage mich, wo wir anfangen sollen. Bei den Kisten hinten im schummrigen Eck? Oder bei dem staubigen Lederkoffer unter der steilen Holztreppe? Die Kartons hier an der Wand sehen unscheinbar aus, aber irgendwo müssen wir anfangen.
»Komm, hilf mir mal bitte.« Obenauf stehen zwar kleinere Kartons, aber selbst auf Zehenspitzen schaffe ich es nur, den untersten Rand des Kartons zu berühren.
»Zwerge haben es schon nicht so leicht im Leben, was?« Emma, die Riesin, hebt ohne Probleme den Karton an und hält ihn mir grinsend entgegen. Ich strecke ihr die Zunge raus. Insgeheim bin ich aber erleichtert, dass sie nicht weiter über Jenny nachdenkt.
»Wie interessant«, murmle ich sarkastisch und hebe eine kleine Stoffpuppe hoch. »Ziemlich gruselig.«
»Bist du dir sicher, dass diese Tilly nicht ein bisschen verrückt war?«
Ihre Worte verletzen mich und ich drücke die Puppe schützend an meine Brust. »Warum? Das ist nur ein altes Kuscheltier.«
»Heart.« Emma lacht laut auf. »Das ist mit ziemlicher Sicherheit eine Voodoo-Puppe.«
Vor Schreck lasse ich die, in der Tat etwas seltsame, Puppe zurück in den Karton fallen.
»Wuhää!«, stöhne ich und schüttle mich. Emma kichert immer noch. »Wenn wir tiefer graben, finden wir sicher auch noch die passenden Nadeln. Schau mal.« Sie hebt, schelmisch grinsend, eine Pappbox ins Licht. »Vielleicht hier drin.«
Wieder schüttle ich mich. »Lass das.«
Natürlich weiß ich, dass Voodoo nicht nur schwarze Magie ist, aber Voodoo-Puppen und Nadeln … Das passt nicht zu Tilly. Ganz und gar nicht. Nicht zu dem Bild, das ich von ihr habe. Angeekelt stelle ich den Karton mit der Puppe auf den Boden und schiebe ihn mit dem Fuß von mir.
»Lass uns da drüben weiterschauen, okay?«
Jahrelang angesammeltes Zeug, esoterische Ratgeber, ausgemalte Mandala-Bücher mit den Titeln ›Good Vibes – Good Feelings‹ oder ›Magische Mandalas – Futter für die Seele‹ und Kleidung fördern wir zutage. Es ist wieder genauso frustrierend wie vor ein paar Wochen, als ich Tillys Wohnung über dem Café auf den Kopf gestellt habe.
»Hier ist einfach nichts«, sagt Emma nach gefühlten Stunden und reibt sich über den steifen Nacken. »Tut mir leid, Kleine. Aber wir haben wirklich jede Kiste durchgeschaut.« Sie blinzelt müde und blickt auf ihre Armbanduhr. »Himmel! Es ist schon halb acht. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wo wir schlafen sollen.«
Natürlich hat sie recht und trotzdem will ich noch nicht aufgeben. Wir haben ein ziemliches Chaos angerichtet und irgendwann die Kartons einfach auf den Boden ausgeleert. Überall sind Tillys Sachen verstreut. Obwohl ich ihrer verstorbenen Seele gegenüber einen gewissen Respekt empfinde, bin ich wie im Rausch. Die pure Hoffnung etwas zu finden, treibt mich noch immer an. Es ist fast schon wahnhaft, dass ich nicht aufhören kann, alles nochmal und nochmal zu durchstöbern. Ich sitze inmitten eines Haufens aus Pullovern, Kerzenständern, einer zerkratzten Teekanne und losen Blättern.
»Irgendwas muss hier sein. Ich bin mir ganz sicher, dass hier was ist. Wir haben es nur übersehen.«
Auf allen Vieren krabble ich über den Boden. »Ganz sicher.«
»Jetzt hör auf. Da ist nichts. Nichts, das uns weiterhilft.« Mit dem Fuß stößt sie gegen einen Haufen Klamotten, den ich gerade in die Hand nehmen will.
»He, ich wollte … Emma!« Ich schiebe mich näher heran. »Emma, jetzt schau doch mal.«
Mit den Fingern fahre ich über die breite Holzdiele, die unter dem Haufen zum Vorschein gekommen ist, um sicher zu gehen, dass mich meine Augen nicht trügen. Und wirklich, die Nägel in dem alten Holz fehlen und die Diele bewegt sich unter meinen Händen.
»Ha!«, rufe ich aus und hebe das lose Brett an. Es knarzt und ich muss fester daran ziehen, damit es sich vollends aus dem Boden lösen lässt, dann aber halte ich es in Händen und schaue in ein dunkles Loch.
»Du meine Güte«, stößt Emma atemlos hervor. Sie kniet sich neben mich und stützt sich auf ihre Hände, um besser sehen zu können.
»Gib mir bitte mal die Taschenlampe.«
Sie öffnet ihre Umhängetasche, in der Henrie friedlich schlummert, und reicht mir die Lampe. Wir halten beide den Atem an, als ich sie anknipse und der Lichtstrahl eine Kiste erfasst. Eine dünne Staubschicht zeugt davon, dass sie schon eine Weile nicht mehr geöffnet worden ist. Die Kiste ist vielleicht so lang wie mein Unterarm und aus angelaufenem Metall.
»Hohl sie raus«, flüstert Emma aufgeregt. Im gleichen Moment öffnet sich die Tür zur Kellertreppe und wir fahren zusammen.
»Ich schließe gleich das Café. Seid ihr fertig?«, ruft Jenny.
»Mhm, fast.«
Jennys Schritte knarzen auf der alten Treppe, als erst ihre Füße und Beine, dann der Rest ihres beleibten Körpers auftauchen. Es gibt keinen Grund für meine Heimlichtuerei, aber ich lege einen alten, mottenzerfressenen Pullover über die Öffnung im Boden.
»Habt ihr gefunden, wonach ihr gesucht habt?«
Und ob wir das haben. »Nein, leider nicht. Aber wir haben eine ziemliche Unordnung angerichtet.«
»Ja, das sehe ich.« Jenny schmunzelt und lässt den Blick über das Chaos gleiten. Emma hebt umständlich im Aufstehen ihre Tasche hoch und tritt auf sie zu.
»Es tut uns leid. Wenn Sie es uns erlauben, kommen wir morgen wieder und räumen auf, Frau …«
»Ach, sagt einfach Jenny zu mir.« Sie zwinkert Emma zu. »Wenn ihr zwei mir versprecht, morgen wiederzukommen, will ich so tun, als wäre ich auf beiden Augen kurzzeitig erblindet. Kommt.«
Ich lecke mir über die Lippe und werfe einen kurzen Blick auf den Pullover. Eigentlich könnte es mir egal sein, ob Jenny die Kiste sieht, gleichzeitig will ich aber nicht, dass sie Fragen stellt und am Ende sogar sehen möchte, was sich daran befindet. Obwohl Jenny nett zu sein scheint, vertraue ich ihr nicht.
Dennoch zögere ich, bis Emma mein Handgelenk ergreift und daran zieht. »Komm«, fordert sie mich auf und schaut mich eindringlich an.
Morgen, denke ich und schultere meinen Rucksack. Der Punkt zwischen meinen Schulterblättern brennt, während ich die Treppe nach oben steige, in Gedanken bin ich ganz bei dieser geheimnisvollen Kiste.
5
»Zimmer vier wäre noch frei«, sagt der alte Mann und greift nach einem Schlüssel. In den vorherigen Minuten hat er mit seinen Unterlagen geraschelt und uns immer wieder misstrauisch gemustert. Ich kenne diese kleine Pension und weiß, dass sie gerade mal sechs Zimmer hat. Und alle sechs Schlüssel hängen hinter dem Mann an der Wand. Langsam, fast wie in Zeitlupe, streckt er seine Hand nach dem Schlüsselbrett aus. Dabei lässt er uns keine Sekunde aus den Augen. Als ob wir die alte Tischklingel klauen würden.
»Danke sehr!« Ich lächle gezwungen, Emma muss ihm den Schlüssel fast aus der Hand reißen, ehe er ihn loslässt und wir uns umdrehen können. Das Zimmer ist allerdings so günstig, dass wir es von meinem Ersparten bezahlen können. Irgendwann werden wir uns wohl Gedanken über das Geld machen müssen.
Ich spüre seinen Blick, als wir die abgetretene Treppe ins erste Stockwerk emporsteigen. Es sieht noch alles genau so aus, wie in meiner Kindheit. Blümchentapete, der ehemals rote Teppich, der jetzt rosa ist, die altmodischen Leuchten mit den Troddeln. Ich seufze leise und versuche nicht an die Zeit zu denken, in der Elena und ich mit den Kindern der ehemaligen Besitzer hier Verstecken gespielt haben. Ronda und Harry hießen die Zwillinge, erinnere ich mich.
»Was hatte der denn für ein Problem?«
»Keine Ahnung. Der war ja schon sonderbar. Hauptsache wir haben ein Zimmer für die Nacht. Hier ist