»Ich nehme mal an, dass es wenig wirtschaftlich ist, ein Dorf unbewohnt zu lassen. Möchtest du eigentlich zu eurem alten Haus?«
Der abrupte Themenwechsel überrascht mich und ich sage viel hitziger als nötig: »Ganz sicher nicht!«
Köpfe drehen sich nach uns um und neugierige Blicke mustern Emma und mich. Verlegen wippe ich auf den Fersen vor und zurück und versuche die Leute unschuldig anzulächeln. Emma verschränkt ihre Finger mit meinen. »Dann lass uns doch einfach ein Stück gehen und überlegen, wie wir diese Jenny ausfragen können. Ich hoffe, dass sie Tillys Sachen noch nicht weggeschmissen hat.«
Da bin ich ganz bei ihr. Warum aber sollte jemand die Habseligkeiten einer verstorbenen und noch dazu fremden Person aufheben? Ich mache mir keine großen Hoffnungen.
Illington hat sich nicht wirklich verändert, eigentlich hat sich überhaupt nichts verändert. Das ist schön und erschreckend zugleich. Ich verbinde so vieles mit allen möglichen Orten. Die alte Turnhalle, hinter der Lion und ich zum ersten Mal rumgeknutscht haben. Der Spielplatz, auf dem Elena so gerne geschaukelt hat und auf dem wir uns das erste Mal richtig betrunken haben. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht bei der Erinnerung. Elena war so betrunken gewesen, dass sie auf das Dach der Sandkastenhütte stieg und ein Ständchen zum Besten gab, bis sie hemmungslos lachend das Gleichgewicht verlor und im Sand landete. Auf der Bank am Dorfbrunnen habe ich mit Lion Schluss gemacht. Damals war mir noch nicht bewusst, dass ich auf Mädchen stehe. Und die blühenden Büsche erinnern mich schmerzlich an meine Eltern.
Ich ziehe sanft an Emmas Hand, die ich immer noch halte, und sage: »Ich glaube, ich möchte meinen Eltern die letzte Ehre erweisen.«
Emma ist anzusehen, dass sie verwirrt ist. »Auf dem Friedhof?«
»Nein.« Ich schlucke. »Das wäre nicht der richtige Ort.«
»Aber, wo … Oh!« Ihre Augen werden groß, als sie begreift, und ihre Unterlippe bebt. »Im Wald?«
»Schaffst du das?«
»Oh Gott, keine Ahnung.« Sie verbirgt ihr schönes Gesicht in ihren Händen. »Aber wenn du in deinen Heimatort zurückkehren kannst, werde ich ja wohl in den blöden Wald gehen können.« Jetzt zittert auch ihre Stimme. Ich schlinge die Arme um sie und so stehen wir einen Moment einfach nur da.
»Du musst nicht. Ich kann auch …«
»Doch. Doch, ich muss«, unterbricht sie mich unwirsch und wischt sich eine vereinzelte Träne von der Wange, bevor ich es tun kann. Sie löst sich von mir, schnieft, seufzt und schüttelt dann heftig den Kopf. »Sie ist ja nicht mehr dort. Uns kann nichts mehr passieren.«
Obwohl sie keine Frage gestellt hat, nicke ich.
»Genau. Dort ist jetzt alles sicher.« Damit versuche ich nicht nur meine Freundin zu beruhigen.
Ich lasse es mir vielleicht nicht anmerken und obwohl ich den Ort ausgewählt habe, um meinen Eltern die letzte Ehre zu erweisen, ist es auch mir nicht ganz geheuer, zurück in den Düsterwald zu gehen.
»Wenn man vom Pferd fällt, muss man sofort wieder aufsteigen«, murmle ich.
»Der Vergleich hinkt ganz schön.«
4
Ich trage bunt blühende Zweige in den Armen. Der Wald empfängt uns so viel freundlicher als damals. Er ist voller Leben und Geräuschen, die Luft ist warm und riecht nach Harz und Tannen und dennoch läuft mir ein eisiger Schauer über den ganzen Körper. Emma geht es nicht besser. Bei jedem Geräusch zuckt sie zusammen und schaut sich um, als erwarte sie jeden Augenblick Nebelschwaden. Wir haben uns nicht dazu durchringen können, tiefer in den Wald zu gehen, der uns noch immer in unseren Albträumen heimsucht. Stattdessen habe ich mir den Stamm einer riesigen, alten Schwarztanne ausgesucht, um meine Eltern zu begraben. Symbolisch für ihre beiden Körper haben Emma und ich Sonnenblumen und Lavendel abgeschnitten, die wir vorsichtig vor den dicken Stamm legen. Mir wären Flieder oder Blutjohannisbeere lieber gewesen, doch ihre Zeit ist, wie die meiner Eltern, längst verstrichen. Die Farben der Blüten stechen aus dem Braun des Waldbodens hervor und sehen so fröhlich aus, dass sie schwer zu einer Beerdigung passen. Doch so ist es mir lieber. Ich möchte nicht in Schwarz um meine Eltern trauern. Sie waren lebensfrohe und manchmal auch verrückte Menschen. Dieser Abschied passt viel besser zu ihnen und ist ihnen würdiger. Ich lege eine Hand auf die Stelle wo mein Herz unter der Brust schlägt und schlucke. Emma beginnt zu weinen. Ihr Schluchzen erfüllt den kleinen Platz um den Baum herum und in diesem Moment schrumpft die Welt um uns zusammen. Mir ist, als bekäme ich plötzlich keine Luft mehr und noch während ich um Fassung ringe, füllen sich meine Augen mit den ersten Tränen. Ich weiß nicht, wer von uns als erste auf die Knie gesunken ist, doch irgendwann sitzen wir beide auf dem Waldboden und weinen bitterlich. Mein Herz blutet vor Trauer und fühlt sich kalt und leer an. Die Leere, die der Verlust meiner Eltern hinterlässt, ist so dunkel und schmerzhaft, dass ich zusammenbreche, daran zerbreche. Ich frage mich, ob es stimmt, hoffe, dass es so ist, kann aber in diesem Moment nicht daran glauben, dass Zeit alle Wunden heilt. Ich habe keine Familie mehr! Wie soll ich darüber je hinwegkommen? Wie sollte Zeit dabei helfen? Aber Emma ist noch da. Meine liebe, fantastische Emma. Ohne sie fühle ich mich nicht mehr wie ich selbst. Sie versteht mich. Wir müssen einander nicht glauben, wir wissen, was die andere durchgemacht hat, ohne dass wir einander für seltsam halten. Wir sind gemeinsam durch die Hölle gegangen und finden jetzt langsam den Weg zurück in die Helligkeit. Und auch das wieder vor allem gemeinsam. Sie und ich gegen den Rest der Welt. Sehr schnell waren aus zwei Fremden Freundinnen geworden - eine Einheit. Gute, wie schlimme Erlebnisse schweißen einfach zusammen.
Hand in Hand laufen wir langsam zurück ins Dorf. Ich fühle mich leer und kraftlos. Und ich friere. Selbst in der sengend heißen Augustsonne zittere ich wie Espenlaub. Emma und ich haben ein paar Worte gesprochen und versucht, uns zu verabschieden. Unsere kleine Beerdigung war ein schöner, wenn auch schmerzhafter Moment, doch ob sie mir hilft, mit dem Tod abzuschließen oder nur ein Schritt in diese Richtung war, weiß ich nicht.
Eine Beerdigung ist nicht nur ein Abschied, ein Ende von etwas, sondern auch ein Anfang. Sie trennt das Davor vom Danach. Deshalb, und weil ich mir einen Neustart wünsche, habe ich geglaubt, dieser Akt der Beisetzung würde mir helfen. Helfen, darüber hinwegzukommen, damit zurechtzukommen. Aber es hat nicht geholfen, jedenfalls nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte. Dieser Moment unter der mächtigen Schwarztanne bestätigt mir, was ich ohnehin schon wusste, aber nicht wahrhaben wollte - meine Eltern sind tot!
Ob ich die Hoffnung hatte, sie hier in Illington, verwirrt, aber am Leben, wieder zu treffen? Natürlich! Aber die Hoffnung ist ein ganz mieser Wegbegleiter. Einer von der Sorte, der dir etwas vorgaukelt und dann am Ende laut über dich lacht.
Meine Eltern sind tot. Sie werden nie mehr zurückkommen.
Obgleich ich das weiß, fehlen sie mir überall. Manchmal sehe ich Dinge, von denen ich ihnen erzählen möchte, oder ich glaube Mamas Stimme zu hören. Wenn ich mich dann umdrehe, ist dort niemand. Nur Leere und oft Einsamkeit. Meine Finger umschließen Emmas Hand fester und ich laufe ein bisschen näher neben ihr her, bis sich unsere Oberarme leicht berühren. Die Einsamkeit lässt sich zusammen besser ertragen. Denn es ist keine physische Einsamkeit, die uns beide plagt. Im Laufen habe ich auf den Boden geschaut, weil es mir gerade schwer fällt all diese neuen Menschen in meiner alten Heimat zu sehen. Ich würde sofort weglaufen, wenn wir uns nicht etwas von diesem Besuch erhoffen würden. Es überrascht mich wenig, als wir kurze Zeit später wieder vor Tillys Café stehen, das jetzt Frühstückscafé heißt, und wir durch die Tür ins Innere treten. Der Laden ist leer.
»Na hallo. Ihr zwei schon wieder.« Jenny steht an einem Tisch und sammelt leere Gläser ein. Ihre Augen blitzen amüsiert. »Kann ich euch etwas anbieten?«
»Gerade nicht, danke. Es tut mir leid. Wir waren vorhin nicht ganz ehrlich zu Ihnen.«
»So?«, fragt sie und mustert uns abwechselnd.
»Wir, besser gesagt ich kannte die frühere Besitzerin dieses