Drittens. Sei barmherzig (17). Mit dir selbst, wenn du unweise handelst, und mit dem anderen, der unweise gehandelt hat. Denn du hast einen barmherzigen Gott. Du kannst aus eigener Kraft nicht weise sein. Deine erste gute Tat (17) besteht darin, erst einmal selbst nichts zu tun, sondern Gott um Weisheit zu bitten. Dann entstehen gute Taten von ganz allein.
Jan Hanser
35 | Barmherzigkeit tut not
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
LUKAS 6,36 (LUTHER 1984)
Barmherzigkeit wird von allen großen Religionen und Weltanschauungen gefordert. Aber was ist Barmherzigkeit? Barmherzigkeit heißt doch, dass ich mein Herz dem Menschen öffne, dem es nicht so gutgeht wie mir. Der Barmherzige gibt etwas von dem ab, was ihm gehört. Er gleicht einen Mangel aus. Aber passt das überhaupt noch in die heutige Welt?
Der Lieblingsspruch eines ehemaligen Kollegen lautete: „Wenn jeder für sich selbst sorgt, ist für alle gesorgt.“ Aber stimmt das? Ich denke, es ist ein ganz großes Geschenk, wenn wir für uns selber sorgen können. Aber kein Mensch weiß, wie sein Leben weiter verlaufen wird. Manchmal kann es ganz schnell gehen, dass wir auf Hilfe angewiesen sind. Und dann sind wir froh, wenn andere für uns da sind.
Nicht nur für sich leben ist befreiend, weil wir dadurch das Kreisen der Gedanken um uns selbst durchbrechen können. Barmherzig sein muss gar nicht mit großen Dingen einhergehen, sondern kann oft im Verborgenen stattfinden. Schon eine kleine Geste, ein Lächeln, kann manchmal Wunder bewirken. Die Grundlage für Barmherzigkeit ist Respekt. Respekt für den Menschen, mit dem es das Leben nicht so gut meint wie mit mir. Gerade in unserem Umgang mit Kranken, alten oder wirtschaftlich schwachen Menschen können wir erkennen, wie viel Respekt wir für andere haben. Oft sind wir voller Vorurteile, wenn wir Dinge bemerken, die wir nicht einordnen können. Ein Beispiel: Ein älterer Mann geht morgens schwankend auf der Straße und fällt hin. Schnell denkt man: Der Alte hat aber früh angefangen zu trinken. Die Wirklichkeit ist aber ganz anders. Da ist Diabetes, Fehlsichtigkeit oder ein miserabler Zustand mancher Bürgersteige die Ursache.
Barmherzigkeit fängt im Kopf an. Wie sehen und begegnen wir anderen Menschen? Statt schnell unseren Vorurteilen nachzugehen, lohnt es sich, genauer hinzusehen und anderen Menschen mit Respekt zu begegnen. Dann ist es auch nur noch ein kleiner Schritt zur praktizierten Barmherzigkeit.
Ulrich Römer
Handeln wie Jesus
36 | Handlungskonzepte, Terebinthen und glückliche Gemeinschaften
Die Fülle konkreter ethischer Fragestellungen nimmt immer mehr zu. Die Auswirkungen des Handelns Einzelner werden durch die zunehmende Vernetzung der Welt immer sichtbarer. Diese kaum mehr zu durchschauende Komplexität lähmt oder führt in nicht hilfreiche Verengungen. Dementsprechend wird die Frage nach konkreten, im Alltag umsetzbaren ethischen Handlungskonzepten immer lauter. Das grundlegende Konzept Gottes für diese Welt ist natürlich der „10-G-Plan“ aus 2. Mose 20. Es gibt aber auch noch andere biblische Handlungskonzepte. Die „Genesis-Basics“ (1. Mose 1,28; 2,15) z. B. fordern uns zu Wachstum, Vervielfältigung und Verantwortung heraus. Sie sind ein eher öko-demographisches Konzept, während die „Deuteronomiums-Aktion“ in 5. Mose 14,22 - 29 einen sozio-hygienischen Handlungsrahmen skizziert. Der „Jes-58-Check“ schließlich verknüpft gesellschaftlich-soziale Verantwortung mit der Verheißung persönlichen Wohlergehens.
Auch im Neuen Testament finden wir Handlungskonzepte, unter anderem die „Lazarus-Mission“ (Johannes 11,43 und 44), die eine gruppendynamische Perspektive für die Befreiung eines Menschen nach seiner Bekehrung oder Wiederbelebung entwickelt.
Das Ziel aller biblischen Handlungskonzepte ist, zusammenfassend gesagt, die Verherrlichung Gottes durch eine glückliche Gemeinschaft, an der man Jesus erkennen kann. Eine Gemeinschaft, die an die „Terebinthen der Gerechtigkeit“ erinnert, eine „Pflanzung des Herrn, dass er sich durch sie verherrliche“, wie es in Jesaja 61,1 - 3 heißt. Terebinthen sind im Mittelmeerraum weit verbreitet und als Schattenspender sehr geschätzt. Selbst nach Zufügung einer Wunde fließt aus ihnen noch ein äußerst wohlriechendes und sehr beliebtes Harz. Das wäre doch eine ethische Frucht, an der man Gottes theologisches Ziel mit dieser Welt klarer erkennen würde, als es alle Rechtgläubigkeit je vermitteln kann. Darum wollen wir in den nächsten drei nichtalltäglichen Impulsen einmal, exemplarisch für die vielen biblischen Handlungskonzepte, das „Nazareth-Programm“ aus Jesaja 61,1 - 3 betrachten.
Mickey Wiese
37 | Nazareth-Programm I
JESAJA 61,1 - 3
Das „Nazareth-Programm“ aus Jesaja 61,1 - 3, das Jesus in seiner programmatischen Antrittsrede in der Synagoge von Nazareth (Lukas 4,18) als Grundlage seines messianischen Handelns vorstellt, beinhaltet sechs „Außendienste“ und drei „Innendienste“, die ein gutes ethisches Layout für ein modernes, gesellschaftlich relevantes Christenleben darstellen.
1. Außendienst: Die Armen durch frohe Botschaft erfreuen!
Die Armen haben aufgrund mangelnden Landbesitzes keinen vollen Anteil mehr an der Volksgemeinschaft. Das Nichtzugehörigkeitsgefühl ist auch eine Grundbefindlichkeit des modernen Menschen. Wir müssen uns fragen: „Was ist für diesen Menschen in diesem Augenblick seines konkreten Lebens wirklich eine frohe Botschaft, und wie wird das auch als frohe Botschaft bei ihm ankommen?“
Das hebräische Wort für „erfreuen“ (baser) hat denselben Stamm wie das Wort für „Fleisch“ oder „Leib“ (basar). Die frohe Botschaft soll in dem Menschen ein Erkennen auslösen, wie es Adam in 1. Mose 2,21 erlebte: Es geht um etwas, das zu ihm gehört.
2. Außendienst: Zerbrochene Herzen verbinden!
Zerbrochene Herzen sind wie alte, rissige Zisternen, die das Wasser nicht mehr halten können. Alles, was man an Gutem in sie hineingießt, kommt an anderer Stelle sofort wieder heraus und versickert im Sand. Ein zerbrochenes Herz zu verbinden heißt ganz einfach, mit liebevollen, absichtslosen Gemeinschaftsaktionen ein Pflaster mit einem schmerzstillenden Mittel auf die Wunde zu legen.
3. Außendienst: Für Gefangene öffentlich die Freilassung ausrufen!
Die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies leitet den Verlust aller Freiheit ein. Die Auswirkung des Ungehorsams gegen Gott ist genau das Gegenteil von dem, was der Mensch sich eigentlich an Freiheit nehmen wollte. Diesen Menschen sollen wir öffentlich zurufen (das hebräische Wort meint lautes, von jedermann vernehmbares Schreien): „Ihr seid schuldig, aber dennoch frei, das Kreuz Jesu macht aus lähmender Amnesie eine befreiende Amnestie!“
Mickey Wiese
38 | Nazareth-Programm II
JESAJA 61,1 - 3
Weil Jesus uns in der gleichen Weise aussendet, wie ihn der Vater in die Welt gesandt hatte (Johannes 20,21), und wir mindestens die gleichen Werke tun werden wie er (Johannes 14,12), hat gerade das „Nazareth-Programm“ aus Jesaja 61,1 - 3 für unseren Alltag eine starke Bedeutsamkeit.
4. Außendienst: Den Gefesselten die Öffnung des Kerkers verkünden!
Im Kerker sind die Türen zugesperrt. Die Gefangenen sind mit Ketten gefesselt. Selbst wenn sie die Freilassungsbotschaft hören, können sie sich nicht bewegen. Da muss jemand hingehen und die Ketten mit dem richtigen Schlüssel aufschließen.