Schweigen.
Niemand wagte es, einen Ton von sich zu geben und die düstere, unheilschwangere Stille zu durchbrechen.
"Ich frage noch einmal: Wer von euch hat ihm den Bogen gegeben?"
"Mein König...", begann einer der Seeleute zu stottern.
"Rede schon, Olkyr!", wurde der Mann von Kryll angeherrscht.
"Der Namenlose...", stieß Olkyr hervor. "Er hat mir meinen Bogen aus den Händen gerissen!"
Der König nickte und atmete deutlich hörbar aus.
"Schon gut", murmelte er und wandte sich an den Namenlosen.
"Warum hast du das getan?", rief er dem Düsteren entsetzt entgegen. Die Hände des Namenlosen hielten den Bogen fest umklammert.
"Der Vogel war gefährlich", behauptete er zum wiederholten Male, ohne es weiter zu erklären.
Krylls Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
"Was an ihm war gefährlich?"
Der Namenlose schwieg.
Kryll sah nichts weiter, als das Dunkel unter seiner Kapuze. Dann spürte der König, wie Norjan ihm eine Hand auf die Schulter legte.
"Warum regt Ihr Euch über den Tod eines gewöhnlichen Vogels so auf, mein König?", fragte der alte Ritter.
Kein anderer in den Reihen des Königs von Pragan hätte sich ein solches Verhalten erlauben können.
Der weiße Vogel hat nur zu mir gesprochen, drang es in Krylls Bewusstsein. Die Männer hatten davon nichts mitbekommen. Zweifellos mussten sie ihren König in diesem Moment für verrückt halten...
In Krylls Innerem hallte die Warnung des weißen Vogels dutzendfach wider. 'Ihr werdet großes Unglück über die Welt bringen!' hatte ihm der Vogel vorausgesagt. Wie ein spitzer Pfeil hatten sich diese Worte in Krylls Seele gebohrt. Kalte Schauder liefen ihm über den Rücken.
"Ihr seht müde aus, mein König", stellte Norjan fest.
Kryll nickte stumm. Er fühlte sich tatsächlich sehr müde.
"Legt Euch jetzt schlafen, mein König", sagte Norjan sanft.
"Ja", echote der König.
Man bereitete ihm einen Schlafplatz nahe am Mast. Die Schiffe Pragans hatten keinerlei Luxus, sondern waren ganz auf ihren praktischen Zweck hin ausgerichtet. So fehlten beispielsweise jegliche Aufbauten, wie sie für die Schiffe des Südens so kennzeichnend waren. Alles geschah an Deck und selbst ein König hatte keine andere Wahl, als im Freien zu schlafen.
Der weiße Vogel - er ließ den König der Praganier auch die Nacht über nicht los und verfolgte ihn bis in seine dumpfen Träume hinein.
Aber Kryll war wild entschlossen, sich durch nichts und niemanden von seinem Weg abbringen zu lassen.
2. DAS MONSTRUM AUS DER TIEFE
Die helle Sonne war es, die Kryll weckte. Er sprang von seinem Lager auf und wandte sich an den Kapitän, der längst wieder in gewohnter Manier seine Befehl bellte.
"Wo befinden wir uns jetzt?", erkundigte sich der König. Lathor, der Kapitän, deutete zum Horizont. Eine graue Silhouette war dort zu erkennen. Von der Ausdehnung her konnte es eigentlich nur Festland sein.
"Dort ist schon die Küste von Thark, mein König."
"Wie lange werden wir bis dorthin noch brauchen?", erkundigte sich Kryll.
Lathors Gesicht wurde ernst.
"Auf der Route von Arkull nach Alark blies uns der Wind in den Rücken und wir kamen unverhältnismäßig schnell vorwärts. Aber jetzt... Der Wind kommt annähernd von vorn und wir werden gegen ihn kreuzen müssen. Das kostet Zeit. Vielleicht erleben wir unterwegs auch eine Flaute."
"Wenn erst Taraks Schiffe die Meere dieser Welt befahren, werden wir nicht mehr vom Wind abhängig sein", schaltete sich der Namenlose in die Unterhaltung ein.
"Mir ist die GEEDRA lieber, als eines dieser Dämonenschiffe aus dem Schattenland", sagte Lathor bissig. Kryll zuckte nur mit den Schultern.
"Gegenüber Taraks Schiffen sind Schiffe wie die GEEDRA nicht mehr als armselige Nussschalen", behauptete der Namenlose hochnäsig.
Lathor machte eine ärgerliche Geste.
"Wer bist du schon, Namenloser, dass du so zu reden wagst?"
Der Namenlose wandte den Kopf.
Seine Stimme klang eiskalt.
"Ich würde dir raten, einen Diener Taraks nicht zu beleidigen, wenn du nicht seine Rache herausfordern willst!"
Drohend standen sich die beiden gegenüber.
"Lasst Euren Streit ruhen! Ihr gefährdet nur unsere Sache damit!", stellte Kryll fest.
Einen Moment lang hing alles in der Schwebe. Keiner der beiden rührte sich.
"Der König hat recht", sagte schließlich Lathor. Seine Haltung entspannte sich etwas, aber man sah ihm die Mühe an, die er dabei hatte, sich selbst unter Kontrolle zu halten.
Der Namenlose nickte leicht.
"Das ist eine vernünftige Einstellung", sagte er.
Kryll atmete auf.
Der Namenlose ging zum Bug der GEEDRA und stellte sich dort auf. Er blickte hinaus auf das Meer.
"An Eurer Stelle würde ich den Namenlosen genau im Auge behalten, mein König", raunte der Kapitän.
Kryll wandte den Kopf.
"War es nötig, ihn zu provozieren?"
Lathor fluchte leise vor sich hin. Einige unartikulierte Laute gingen ihm über die Lippen. Dann ging er und wandte sich wieder seinen Pflichten als Kapitän zu.
Kryll konnte Lathor mit seinem Misstrauen gut verstehen. Auch ihm war der Mann aus dem Schattenland unheimlich, aber er sagte nichts. Er brauchte den Namenlosen einstweilen noch...
*
Auf Grund des ungünstigen Windes kam die GEEDRA nur verhältnismäßig langsam vorwärts. Lathor, der Kapitän gab sich zwar alle Mühe, aber ein Wunder konnte auch er nicht bewirken.
So leicht wie der Wind glitt das Schiff über die Wellen, aber die GEEDRA musste wieder und wieder kreuzen, um ihrem Ziel ein Stück näher zu kommen.
Eine unheilschwangere Stimmung lastete schwer auf dem Schiff und seiner Besatzung. Eine angespannte Atmosphäre herrschte an Bord, obwohl es dafür eigentlich keinen wirklich greifbaren Grund gab.
Als der Vogel aufgetaucht war, hat sich alles verändert, schoss es Kryll auf einmal durch den Kopf. Vielleicht hatte der Namenlose recht und dieses geheimnisvolle Wesen bedeutete tatsächlich eine Gefahr.
In Gedanken hörte Kryll wieder und wieder Warnung des weißen Vogels. Der König von Pragan sollte umkehren, wenn er nicht großes Unglück