Der 22.6.1990 war ein ganz normaler Verhandlungstag in der Ostberliner Volkskammer – zunächst. Allerdings, ganz normal waren die Verhandlungen nie. Vielmehr standen die Abgeordneten unter dem Druck, eine Vielzahl von Gesetzen zu verabschieden, mit denen, nachdem schon der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion mit der Bundesrepublik abgeschlossen worden war, eine Annäherung an die Gesetzgebung Westdeutschlands erreicht werden sollte. Dazu gehörten auch die Rechte der Kommunen, denen, wie es in § 2 Abs. 2 der Kommunalverfassung vom 17.5.1990 hieß, auch die Aufgabe der Versorgung mit Energie und Wasser obliegen sollte. Das war nicht nur bundesrepublikanischer Standard, den die Berater der Abgeordneten aus den westlichen Bundesländern als wichtig ansahen. Es ging auch darum, die Verstromung der ostdeutschen Braunkohle zurückzudrängen, die schon von Ulbricht als Rückgrat der Stromwirtschaft der DDR angesehen worden war. Die Gewinnung der Braunkohle in riesigen Tagebauen führte zu einem gewaltigen Flächenverbrauch. Die Verbrennung der Braunkohle, die auch in privaten Öfen stattfand, soweit es keine Fernwärmeversorgung gab, bewirkte die Verpestung der Atemluft. Daher verband sich mit der Neuorganisation der Strom- und Wärmeversorgung nicht nur ein technologischer Schub. Es sollte vielmehr auch einen Siegeszug der Ökologiebewegung geben, in dem die dezentrale Versorgung und Erneuerbare Energien eine wichtige Rolle spielten; in der Bundesrepublik stand ja das Stromeinspeisungsgesetz vor der Verabschiedung. Wichtig war auch der dezentrale Ansatz, in dem die Kommunen mit eigenen Stadtwerken eine führende Rolle übernehmen sollten. Es ging damit nicht nur um eine Abwendung von der Braunkohle hin zu sauberem Erdgas, sondern auch um Dezentralität im Gegensatz zu den riesigen Kombinaten der ostdeutschen Energiewirtschaft.
All das schien plötzlich in Frage gestellt. Denn wenige Tage später wollte die DDR-Regierung die gesamten Stromproduktions- und -versorgungsanlagen der DDR an die bundesdeutschen Stromriesen RWE, PreussenElektra und Bayernwerk verkaufen. Aber es gab eine undichte Stelle: Indiskretionen über die Verhandlungen, die der DDR-Wirtschaftsminister Karl-Hermann Steinberg mit den deutschen Strommanagern führte, hatten die Abgeordneten der Ostberliner Volkskammer aufgeschreckt.45 Daraufhin setzten sich die Emissäre der westdeutschen Konzerne für eine Good-will-Tour in Bewegung. Empfangen wurden sie auch von den Abgeordneten der SPD-Fraktion in der Volkskammer. Es schien schon so, als seien die Abgeordneten gewonnen, weil ja in der Tat die riesigen Braunkohlekraftwerke modernisiert und an westdeutsche Emissionsstandards herangeführt werden mussten, was hohe Investitionen erforderte. Die standen der DDR nicht zur Verfügung. Aber „die sich anbahnende Versöhnungsstimmung endete abrupt, als ein Fraktionsgehilfe einen Stapel Kopien in den Tagungsraum schleppte“, schrieb der SPIEGEL.46 Dabei handelte es sich um den Entwurf der Stromverträge zwischen der Regierung der DDR einerseits und dem Bayernwerk, der PreussenElektra und der RWE AG andererseits. Mit diesem Vertragswerk sollten nicht nur die Kraftwerke und das Höchstspannungsnetz an die westdeutschen Konzerne verkauft werden. Vielmehr sollten auch die 15 Bezirks-Energiekombinate (Schwerin, Rostock, Neubrandenburg, Halle, Magdeburg, Leipzig, Dresden, Chemnitz, Potsdam, Erfurt, Jena, Meiningen, Frankfurt/Oder und Berlin) mit den kommunalen Netzen an die Konzerne verkauft werden. Die Konzerne sollten
– nicht nur die Kraftwerke, sondern auch das Transportnetz übernehmen,
– in den Vorständen der Geschäftsführungsgesellschaften die Mehrheit der Vorstandsmitglieder stellen,
– das Versorgungsmonopol durch Verträge absichern können,
– nicht zur Übernahme der Beschäftigten aus den bestehenden DDR-Unternehmen verpflichtet sein und
– von allen bestehenden Umweltaltlasten der DDR-EVU freigestellt werden.
Eine wichtige Rolle spielte die sogenannte „Braunkohleklausel“, mit der der Stromabsatz aus den riesigen Braunkohlekraftwerken und damit deren Bestand abgesichert werden sollte. Es hieß dort, dass die DDR dafür sorgen werde, dass das regionale DDR-EVU mit der Verbundnetz AG einen Stromlieferungsvertrag mit einer Laufzeit von 20 Jahren über 70 % seines jeweiligen Strombedarfs abschließt. Für den Fall, dass es zur Gründung von Stadtwerken komme, sollte die DDR „soweit rechtlich möglich, dafür sorgen, dass die kommunalen EVU mit den jeweiligen regionalen DDR-EVU Bedarfsdeckungsverträge mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren abschließen, soweit sie ihren Strombedarf nicht durch Eigenerzeugungsanlagen decken ... und soweit nicht Energieerzeugungsmöglichkeiten aufgrund regenerativer Energiequellen oder durch wärmegeführte Heizkraftwerke geschaffen werden“. Im unmittelbaren Anschluss an diese Bestimmung findet sich eine Regelung, die die Risiken der Verabredung deutlich machte: „Die DDR wird darauf hinwirken, dass das regionale DDR-EVU die in seinem gegenwärtigen Verantwortungsbereich befindlichen Energieversorgungsanlagen dauerhaft zu Eigentum erhält, die Kommunen nach dem Kommunalvermögensgesetz nur Geschäftsanteile an dem regionalen DDR-EVU erhalten“ und die westdeutschen Erwerber von der Treuhandanstalt die Mehrheit der Gesellschaftsanteile an den regionalen EVU bekommen. Auch sollte das Vermögen des regionalen EVU durch sonstige Herausgabe- oder Entschädigungsansprüche um nicht mehr als 10 % vermindert werden. Dann kam eine Ausstiegsklausel: „Falls dieses nicht erreicht wird, ist das westdeutsche EVU berechtigt, von diesem Vertrag zurückzutreten.“
Hier lag nämlich der Hase im Pfeffer. Die Abgeordneten der Volkskammer hatten nicht nur weitreichende Vorstellungen über die Neuausrichtung der Energiewirtschaft; sie hatten vielmehr auch versucht, durch verschiedene gesetzliche Vorschriften sicherzustellen, dass die Kommunen das erforderliche Versorgungsvermögen erhielten, um die Vorstellungen von einer dezentralen, ökologisch ausgerichteten Energieversorgung auch zu verwirklichen. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass die Regierung sich an die gesetzlichen Aufträge einfach nicht halten, sondern ganz andere Ziele verfolgen wollte.
2. Das Schicksal der Stadtwerke in der DDR
In der Weimarer Zeit gab es in Ostdeutschland 138 Stadtwerke allein in den Gemeinden über 10.000 Einwohner.47 Aber in der sowjetischen Besatzungszone wurde das kommunale Vermögen an wirtschaftlichen Einrichtungen sowie die Beteiligungen und Anteilsrechte an wirtschaftlichen Unternehmen im Zuge einer grundlegenden Neuordnung der kommunalen Wirtschaft in Volkseigentum überführt. Ausgangspunkt war die von der deutschen Wirtschaftskommission erlassene Kommunalwirtschaftsverordnung vom 24.11.1948. Die Kommunen sollten danach Kommunalwirtschaftsunternehmen haben, in die alle Einrichtungen und Betriebe der Versorgungswirtschaft, gleichgültig ob sie Eigenbetriebe oder Gesellschaften waren, eingebracht werden mussten. Die Kommunalwirtschaftsunternehmen waren rechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts und standen im Volkseigentum. Mit der Energiewirtschaftsverordnung vom 22.6.1949 wurde angeordnet, dass das Volkseigentum an Energieanlagen von der Hauptverwaltung Energie in zonale Verwaltung zu überführen war. Damit wurde der Zugriff auf die Unternehmen eröffnet, der zu einer Umstrukturierung der gesamten Energiewirtschaft auf der Grundlage der heimischen Braunkohle führte. Ziel war eine völlige Autarkie. Neben dem Verbundnetz mit riesigen Braunkohlekombinaten, denen sich später die Atomkraftwerke russischer Bauart Rheinsberg, Greifswald und Stendal hinzugesellten, entstanden 15 Bezirks-Energiekombinate, denen die Regionalversorgung mit Strom, Fernwärme und Gas oblag.
Dabei wurden im Zug der staatlichen Wohnungsbaupolitik Neubaugebiete ausschließlich mit Fernwärme beheizt. Die private Wohnungsheizung mit Braunkohle blieb auf die alten Stadtviertel beschränkt. Unter ökologischen Aspekten nahmen sich beide Heizsysteme nichts. Die privaten Heizungen konnten naturgemäß nicht entstaubt und entgiftet werden. Aber auch die gewaltigen Heizwerke der Energie-Kombinate wiesen keinerlei Immissionsschutzvorkehrungen auf. Während der Heizperiode durchzogen daher die gesamte DDR die widerwärtigen Braunkohledünste, die sich im Bewusstsein der Bevölkerung mit der zentralistischen Energiekonzeption Ulbricht’scher Prägung verband.
Die ungeheure Energieverschwendung des Systems ist bekannt. Sie äußerte sich aber nicht nur darin, dass die Heizungen sowohl in den Alt- wie auch den Neubaugebieten keinerlei Ventile aufwiesen, so dass die Raumtemperatur durch Öffnen und Schließen des Fensters geregelt werden musste. Für die Energieverschwendung war in erster Linie verantwortlich die in der Regel getrennte Strom- und Fernwärmeerzeugung anstatt einer energetisch sinnvollen Kraft-Wärme-Kopplung, so dass