Die Präambel enthielt gleich mehrere Punkte des Konzerngutachtens. Es hieß dort, das Gesetz sei beschlossen worden, um „die Energiewirtschaft als wichtige Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Zusammenwirken aller beteiligten Kräfte der Wirtschaft und der öffentlichen Gebietskörperschaften einheitlich zu führen und im Interesse des Gemeinwohls die Energiearten wirtschaftlich einzusetzen, den notwendigen öffentlichen Einfluss in allen Angelegenheiten der Energieversorgung zu sichern, volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern, einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern und durch all dies die Versorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten“.
Eine zentrale Entscheidung des Gesetzes war, die Energiewirtschaft bei bestimmten Entscheidungen einer Aufsicht durch den Reichswirtschaftsminister zu unterstellen. Die in der Weimarer Verfassung verankerte Alleinzuständigkeit der Gemeinden für örtliche Angelegenheiten – und damit für den Bau kommunaler Kraftwerke – war durch die 1935 erlassene Deutsche Gemeindeordnung stark eingeschränkt worden. Die Kontrolle des Staates war in § 3 geregelt: „Der Reichswirtschaftsminister kann von den EVU jede Auskunft über ihre technischen und wirtschaftlichen Verhältnisse verlangen, soweit der Zweck dieses Gesetzes es erfordert. Es kann auch bestimmte technische und wirtschaftliche Vorgänge und Tatbestände bei diesen Unternehmen mitteilungspflichtig machen.“ Nach § 4 mussten die EVU den Bau von Kraftwerken anzeigen. Der Minister konnte das hinnehmen oder auch untersagen, „wenn Gründe des Gemeinwohls es erfordern“. In § 5 war eine Genehmigungspflicht für die Aufnahme der Energieversorgung vorgesehen, die sich der Sache nach gegen die Gemeinden richtete. In § 6 gab es eine Anschluss- und Versorgungspflicht, allerdings eingeschränkt, wenn sie „dem Versorgungsunternehmen aus wirtschaftlichen Gründen nicht zugemutet werden kann“. Schließlich behielt sich der Minister das Recht vor, „die allgemeinen Bedingungen und die allgemeinen Tarifpreise der EVU sowie die Energieeinkaufspreise der Energieverteiler (§ 7 Abs. 1) wirtschaftlich zu gestalten“.
Das klang alles sehr weitgehend. Aber in der Gesetzesbegründung hieß es: „Das Gesetz geht davon aus, dass die energiewirtschaftlichen Unternehmen in erster Linie selbst dazu berufen sind, die Aufgaben aus eigener Kraft zu lösen. Der Reichswirtschaftsminister will sich grundsätzlich darauf beschränken, nur da einzugreifen, wo die Wirtschaft selbst gestellte Aufgaben nicht zu meistern vermag...“. Das war der Deal: Die Konzerne wurden vor den „schädlichen Auswirkungen des Wettbewerbs“ geschützt, mussten aber die „wirtschaftliche Gestaltung“ der Strompreise hinnehmen – im Interesse der Rüstungswirtschaft. Das war das Ergebnis eines langen Prozesses. Aber man konnte auch deutlich erkennen, wo die Reise hinging. Unterschrieben hatte das Gesetz nämlich neben dem „Führer und Reichskanzler“ und den Ministern für Wirtschaft und Inneres auch der „Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht“. Es ging schließlich um die „Wehrhaftmachung der deutschen Energieversorgung“. Dafür, dass die Konzerne auch in den nächsten Jahren das Sagen behielten, sorgte auch ein Chaos bei den Zuständigkeiten: Für die Elektrizitätswirtschaft fühlten sich verantwortlich der Reichswirtschaftsminister, der Reichsinnenminister, der Reichskommissar für Preisbildung (der im November 1936 eine Preisstoppverordnung auch für Strom erließ), die Technokraten der Partei, ein Generalbevollmächtigter für die Energiewirtschaft, der Reichslastverteiler und der Generalinspektor für Wasser und Energie. Und den Konzernen ging es gut: Dank Hochrüstung und Kriegsvorbereitung verkauften sie doppelt so viel Strom wie je zuvor.
Allerdings blieben die Aufwendungen für die Rüstung nicht ohne Einfluss auf die Energiewirtschaft. In den sechs Jahren nach 1933 gab das Reich 80 Mrd. für Rüstung aus, die Staatsverschuldung stieg auf das Dreifache, der Geldmarkt für privatwirtschaftliche Investitionen trocknete aus, und der Banknotenumlauf wurde bis zum Zehnfachen hochgefahren. Im Januar 1939 – nach dem Anschluss Österreichs – meldete das Reichsbankdirektorium der Regierung: „Gold- oder Devisenreserven sind bei der Reichsbank nicht mehr vorhanden. Reserven, die aus der Angliederung Österreichs, aus dem Aufruf ausländischer Wertpapiere und inländischer Goldmünzen gemeldet waren, sind aufgezehrt.“ Aber Rohstoffe für die Rüstungswirtschaft konnten nur auf dem Weltmarkt beschafft werden, wofür wiederum Devisen gebraucht wurden. Diese sollten vor allem die Stars unter den Devisenverdienern, Siemens und AEG, herbeischaffen. Diese hatten allerdings an einer Ausweitung des Exportes kein Interesse. Sie waren dazu auch nicht in der Lage, weil den Arbeitern in den Betrieben schon das Äußerste zugemutet wurde. Gleichwohl mussten sie zu einer echten Exportoffensive mit den dazu gehörenden Preiskämpfen antreten. Das war ihnen allerdings peinlich, denn schließlich hatten sie sich als prominente Mitglieder des Weltkartells verpflichtet, solche Preiskämpfe zu verhindern.
Bei der nächsten Sitzung des Gründerkreises der International Electric Association (IEA) im Londoner Zentralsekretariat erläuterten die deutschen Manager ihren Kartellkollegen die missliche Lage: Obwohl ihnen als Kartellmitgliedern die Notwendigkeit zur Festlegung von verbindlichen Mindestpreisen für Kraftwerke und Kraftwerksaggregate klar war, konnten sie sich wegen der Devisenschwäche ihres Landes nicht an Preisabsprachen halten. Aber die Chefdelegierten des Weltkartells machten den Deutschen keine Vorwürfe, weil sie die Probleme erkannten. Sie kamen den deutschen Kartellmitgliedern Mitte 1939 sogar entgegen, indem sie bereit waren, ihnen einen großen Teil der Aufträge aus dem britischen Empire zu überlassen. Die Deutschen mussten dazu Rücksprache halten. Am 11.8.1939 erhielt der Sekretär des Weltkartells die Nachricht, dass General Electric und Westinghouse keine grundsätzlichen Einwände gegen eine solche Quotenregelung hatten. Aber am 1.9.1939 begann der Krieg mit dem Überfall auf Polen. Das Weltkartell der Anlagenbauer fiel ihm bereits nach wenigen Wochen zum Opfer. Das kleinere Lampen-Weltkartell Phoebus aber überlebte. Der alte Fuchs Meinhardt von der Auer-Gesellschaft hatte es in der neutralen Schweiz angesiedelt. Hier zeigte sich denn auch, dass die Konzernchefs in aller Welt ihre Kartelle auch im Krieg weiterführen: Bei dem routinemäßig schon vor Monaten einberufenen Spitzengespräch im Spätherbst 1939 saßen in der Genfer Rue de Rome neben dem deutschen Vertreter auch die Kartellfreunde aus den freien Staaten England und Frankreich am Tisch. Nur der Pole fehlte. Sein Land hatten die Hitler-Deutschen und Stalin-Russen einträchtig besetzt.
Selbst die Nazi-Diktatur konnte also der Stromwirtschaft nicht schaden. Sie wurde eben gebraucht; ganz abgesehen davon, dass sie weitgehend auch dem Staat gehörte. Selbst die Kartelle überlebten den Zweiten Weltkrieg. Darin liegt das Geheimnis dieser in der Wirtschaft einzigartigen Stellung, des „Stromstaats“. Aber wie ging es weiter?11
7 Zenke, Genehmigungszwänge im liberalisierten Energiemarkt, 1998, 50. 8 Evers, in: Börner, Energiewirtschaftsgesetz, 20. 9 Denkschrift des Deutschen Gemeindetages „Deutsche Energiewirtschaft am Wendepunkt“ vom Oktober 1939, 4. 10 Zenke, Genehmigungszwänge im liberalisierten Energiemarkt, 1998, 78. 11 Weiterführende Literatur: Günter Karweina, Der Stromstaat, 1984; Wolfgang Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, Köln 1989; Gerald Feldmann, Hugo Stinnes. Biografie eines Industriellen, München 1989; Jan Kehrberg, Die Entwicklung des Elektrizitätsrechts in Deutschland – Der Weg zum Energiewirtschaftsgesetz 1935, Frankfurt/Main 1997; Bernhard Stier, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890–1950, Mannheim 1999; Boris Gehlen, Paul Silverberg (1876–1959). Ein Unternehmer, Stuttgart 2007; Kim Christian Priemel, Flick – Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2007.
11. Kapitel
Ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen – aber nicht für die Energiewirtschaft
1. Der Druck der Alliierten