In ihrer Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes sieht die Kommission vorrangig die Nachfragesubstitution, in geeigneten Fällen auch die Angebotssubstitution als Faktoren zur Marktabgrenzung an; potentieller Wettbewerb sei dagegen nicht auf der Stufe der Marktabgrenzung zu berücksichtigen.211 Dabei ist wiederum anzumerken, dass die von der Kommission genannten Kriterien zur Abgrenzung des relevanten Marktes aus ökonomischer Sicht nicht immer überzeugen können: Wie dargelegt sind weder unterschiedliche physische Eigenschaften, verschiedene absolute Preise, differierende Marktanteile oder andere Wettbewerbsbedingungen in Regionen notwendig oder hinreichend, um getrennte sachliche bzw. räumliche Märkte zu konstatieren. Insbesondere bei Kriterien wie den physischen Eigenschaften kann, wie z.B. im Fall United Brands, eine Liste von spezifischen Charakteristika angegeben werden, die erstens eine Reihe von zum Teil recht willkürlich ausgewählten Kriterien enthält und zweitens zu einem sehr eng abgegrenzten Markt führt, der mit der relevanten Frage nach der Marktmacht nur entfernt etwas zu tun hat.
Mit Blick auf die nur unscharfe Schnittstelle von Marktabgrenzung und wettbewerblicher Würdigung hat die Kommission in mehreren Phase-II-Entscheidungen davon abgesehen, eine starre Abgrenzung der relevanten Märkte vorzunehmen. Obgleich sie im Rahmen der Marktabgrenzung den erheblichen wettbewerblichen Druck, der von alternativen Produkten ausging, anerkannte, bezog sie die betreffenden Produkte letztlich nicht in den relevanten Markt ein.212 Anschließend hat die Kommission diesen wettbewerblichen Druck jedoch im Kontext der wettbewerbsrechtlichen Würdigung berücksichtigt.213 Im Fall Travelport/Worldspan gehörte der wettbewerbliche Druck, der von einem nicht in den relevanten Markt einbezogenen alternativen Vertriebskanal ausging, sogar zu den wesentlichen Gründen für die bedingungslose Freigabe des Zusammenschlusses.214 Die Vorgehensweise der Kommission in diesen Entscheidungen macht die beachtlichen Überschneidungen zwischen Marktabgrenzung und wettbewerbsrechtlicher Würdigung deutlich.
Teilweise wird eine exakte Marktabgrenzung aufgrund des Einsatzes moderner ökonomischer Analysen – v.a. Merger Simulationen und UPP-Test – als zunehmend entbehrlich angesehen.215 So ist zwar der Marktbeherrschungstest typischerweise Ausgangspunkt der wettbewerblichen Analyse, jedoch können unter dem seit einiger Zeit in der deutschen und europäischen Zusammenschlusskontrolle geltenden SIEC-Kriterium (s. dazu S. 268 sowie S. 328–332) auch wettbewerbliche Effekte jenseits von Marktbeherrschung – etwa anhand des Preissteigerungsdrucks (UPP-Test) – erfasst werden. Der UPP-Test kann dabei gewissermaßen als „Schnelltest“ Einsatz finden, um in unproblematischen Fällen eine Freigabe zu begründen. Demgegenüber erfordert eine Untersagung stets eine umfassende wettbewerbliche Analyse und damit auch eine Marktabgrenzung.216
β) Hypothetischer Monopolistentest
Zur Beurteilung der Nachfragesubstitution führt die Bekanntmachung der Kommission zusätzlich den aus dem amerikanischen Anti-Trust-Recht übernommenen hypothetischen Monopolistentest in seiner Ausprägung als sog. SSNIP-Test (Small but significant non-permanent increase in price-Test) an. Um die Produkte, die im gleichen relevanten Markt liegen, bestimmen zu können, sei ein gedankliches Experiment durchzuführen, „bei dem von einer geringen, nicht vorübergehenden Änderung der relativen Preise ausgegangen und eine Bewertung der wahrscheinlichen Reaktion der Kunden vorgenommen“217 werde. Festzustellen sei dann, ob der mit der angenommenen kleinen, bleibenden Erhöhung der relativen Preise um 5–10 % einhergehende Absatzrückgang aufgrund des Ausweichens der Kunden auf leicht verfügbare Substitute den durch die hypothetische Preiserhöhung erzielten Gewinn aufzehrte und damit die Preiserhöhung nicht mehr einträglich wäre.218 In einem solchen Fall wären weitere Produkte (bzw. Gebiete) in die Prüfung mit einzubeziehen, bis die gedachte Preiserhöhung profitabel wäre. Wichtig erscheint, dass – anders als nach der oben (S. 89–93) wiedergegebenen amerikanischen Variante des SSNIP-Tests – nicht darauf abgestellt wird, ob ein gewinnmaximierender Monopolist den Preis tatsächlich um 5–10 % erhöhen würde: Denkbar ist, dass eine Preiserhöhung um 5–10 % noch profitabel wäre, der gewinnmaximierende Preis aber bereits bei einer Erhöhung um z.B. 3 % erreicht würde. Nach der referierten US-amerikanischen Spielart des Tests wäre der Markt in einer solchen Situation noch nicht zutreffend abgegrenzt, vielmehr durch Hinzunahme der Produkte und Gebiete zu bestimmen, bei denen der gewinnmaximierende Preis im Bereich einer Erhöhung von (wenigstens) 5 % läge. Dagegen könnte nach dem in der Kommissionsbekanntmachung vertretenen Ansatz der Markt bereits als zutreffend abgegrenzt gelten, sobald eine Preiserhöhung um 5–10 % profitabel wäre.
Anwendungspraxis. Die aus dem Jahr 2001 datierende Entscheidung CVC/Lenzing219 betrifft die Frage des Produktmarktes von Kunstspinnfasern für textile und nicht-textile Verwendung. Zur Anwendung des SSNIP-Tests führte die EU-Kommission zunächst eine umfassende Marktuntersuchung durch. Befragt wurden sowohl direkte wie indirekte Kunden der Parteien als auch die Parteien selbst sowie deren Wettbewerber. Mittels Fragebögen sollten so die maßgeblichen nachfrager- sowie anbieterseitigen Daten ermittelt werden.220 Weitere Beispiele für die Generierung von Daten durch Befragung der Marktteilnehmer finden sich in mehreren anderen Entscheidungen.221 Zur Frage der Repräsentativität solcher Marktuntersuchungen nahm die Kommission im Fall CVC/Lenzing den Standpunkt ein, dass eine Rücklaufrate von über 50 % sowohl hinsichtlich der absoluten Zahl der befragten Unternehmen als auch der von ihnen generierten Umsätze als Grundlage der weiteren Analyse ausreichend sei.222
Dass Marktbefragungen nicht stets zuverlässige Ergebnisse generieren, wird in der Entscheidung Südzucker/ED&F Man besonders deutlich. Im Rahmen der räumlichen Marktabgrenzung ging die Kommission der Frage nach, inwieweit industrielle Zuckerabnehmer, die ihren Bedarf typischerweise national auf dem italienischen Zuckermarkt deckten, im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung auf ausländische Bezugsquellen ausweichen würden. Die Mehrheit der Nachfrager gab an, dass sie im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung Zucker auch von ausländischen Anbietern beziehen würden. Diese Angabe stand jedoch in deutlichem Widerspruch zum vergangenen Verhalten der betroffenen Unternehmen, da in den vorangegangenen fünf Jahren in Italien bereits signifikante Preiserhöhungen von mehr als 5–10 % erfolgt waren und die große Mehrheit der Nachfrager dennoch nicht auf ausländische Bezugsquellen ausgewichen war.223
Um zwei Produkte als Substitute ansehen zu können, muss nach Ansicht der Kommission der Nachfrager den Wechsel von dem einen Produkt zum anderen, z.B. wegen eines kleinen, aber signifikanten, nicht nur vorübergehenden Preisanstiegs, in relativ kurzer Zeit als realistisch und rational möglich ansehen; bei ökonomischer und technischer Betrachtung müssen beide Produkte jeweils als sinnvolle Alternative zum anderen erscheinen.224
Die Ermittlung des Nachfragerverhaltens in Reaktion auf die hypothetische Preiserhöhung stellt jedoch nur den ersten Schritt des SSNIP-Tests dar. Die Beurteilung der Profitabilität der gedachten Preiserhöhung als zweiten Schritt des Tests erfolgt durch die Kommission oft nur kursorisch. Im Fall CVC/Lenzing wird zwar bei der Betrachtung der Kostensituation die Entwicklung der Fixkosten sowie der variablen Kosten erwogen, jedoch nur in recht allgemeiner Weise.225 Die Kommission stellt lediglich fest, dass ein Absatzrückgang von 10–15 % als Reaktion auf eine 10 %ige Preiserhöhung für Lyocell-Fasern nicht zur Annahme der Unprofitabilität der Preiserhöhung führen könne, und bleibt damit eine genaue Analyse schuldig.226
In der Entscheidung New Holland/Case227 zieht die Kommission bei der Abgrenzung des Marktes für leichte Baumaschinen ebenfalls ergänzend den SSNIP-Test heran, ohne das Ergebnis des Tests jedoch näher zu belegen. Es findet sich allein der Hinweis, dass die Nachforschungen der Kommission den Schluss zuließen, eine hypothetische kleine und nicht nur vorübergehende Preiserhöhung führe nicht zu einem Wechsel der Abnehmer auf andere einzelne Produktgruppen von leichten Baumaschinen in einem die Profitabilität der Preiserhöhung in Frage stellendem Maße.228 Insgesamt sei daher nicht von einem gesamten Markt für leichte Baumaschinen, sondern von insgesamt fünf Einzelmärkten auszugehen.229