»Fangt auf, Majestät!«, bellte er und ohne zum Stehen zu kommen oder seinen Blick von dem jungenhaften Alben abzuwenden, warf er ein kurzes Messer nach Nubrax. Der überraschte Zwerg hatte kaum die Dauer eines Lidschlages Zeit, den silber schimmernden Gegenstand als das zu erkennen, was er war. Doch da er sich durch die vermeintliche Attacke in seiner Meinung über den treulosen Verräter bestätigt sah, versuchte er im ersten Augenblick instinktiv auszuweichen. Als er erkannte, dass Ephialtes nicht vorgehabt hatte, ihn mit der Waffe zu verletzten, war sie bereits nutzlos im herabgefallenen Laub der umstehenden Bäume gelandet. Wie ein Ertrinkender, der nach dem rettenden Stück Treibholz greifen wollte, stürzte sich der mittelbergische Thronfolger auf den Boden, um im fahlen Licht der aufgehenden Sonne nach der Klinge zu suchen.
»Nein, lass das liegen!«, schrie der Alb, der nur wenige Schritte vor ihm stand und setzte mit großen Schritten auf ihn zu, wobei er sich in einer Ranke verfing und beinahe gestolpert wäre. Nubrax bekam davon nichts mit. Stattdessen durchpflügte er mit bloßen Händen das vom letzten Regen noch immer aufgeweichte Erdreich. Doch je dringlicher er nach dem Messer tastete, desto weniger schien er es finden zu können. Unablässig waren seine Augen auf den Waldboden fixiert, während er auf den Knien kauernd mit dem Unterarm die Blätter beiseite wischte.
Im Hintergrund konnte er hören, wie das Breitschwert des jüngeren Angreifers mit dem Krückstock von Ephialtes zusammenschlug. Obwohl es keinem Zwerg schwerfiel, bei geringer Helligkeit etwas zu erkennen, wirkte das hektisch aufgewühlte Laub wie ein Vorhang, der die rettende Waffe beinahe schon absichtlich zu verbergen schien.
Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, berührten Nubrax’ Finger einen harten, scharfkantigen Gegenstand in der ansonsten butterweichen Erde. Noch nie zuvor hatte er sich so über einen Schnitt in die Hand gefreut, als er das Messer an der Klinge aus dem Dreck zog.
Doch die Suche hatte einen Herzschlag zu lang gedauert. Denn im gleichen Moment, da der Prinz die Waffe zu Verteidigung emporreißen wollte, traf ihn schon der Stiefel des Alben hart an der Schulter. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper, während er von den Knien gerissen wurde und sich auf dem Waldboden einmal um die eigene Achse drehte.
»Bleib liegen, Zwerg, oder das nächste Mal züchtigt dich der Stahl meines Schwertes!«, spie der Krieger ihm drohend entgegen. Wie zum Beweis seiner Worte richtete er den Säbel auf Nubrax’ Hals, kaum dass dieser zum Liegen gekommen war. »Leg das Messer nieder und wir lassen dich am Leben«, fügte er hinzu, während seine schwarz glänzenden Augen durchdringend auf ihn herabsahen.
Aber der Königssohn dachte gar nicht daran aufzugeben. Was hatte er denn schon zu verlieren? Zwar überkam ihn eine seltsam verquere Gefühlsmischung aus Glück und Dankbarkeit, dafür, dass der Schwarzäugige ihn nicht getötet oder gegen den Kopf getreten hatte – obwohl ihm nach wie vor zu beidem die Möglichkeit gegeben war. Allerdings wusste er nur zu gut, wozu Wesen seiner Art fähig waren. Aus diesem Grund hatte er nicht vor, ihm mit der gleichen Nachsicht zu begegnen.
Ein weiteres Mal war das Geräusch von Stahl zu hören, der wuchtig gegen Holz prallte, dicht gefolgt von einem dumpfen Aufschlag, welcher wohl von Ephialtes’ entzwei geschlagener Krücke stammte. Auf dem Rücken liegend kam Nubrax der Aufforderung augenscheinlich nach, indem er übertrieben langsam die Hand mit dem Messer auf den Boden sinken ließ, ohne es jedoch gänzlich loszulassen. Gleichzeitig krallten sich die Finger seiner Linken unmerklich ins feuchte Erdreich.
Nach wie vor nahm er Kampflaute hinter sich wahr und empfand dabei zum ersten Mal so etwas wie Verbundenheit mit seinem unfreiwilligen Weggefährten. Kaum dass dieser Gedanke in seinem Hirn Gestalt anzunehmen begann, tat Ephialtes ihm unbewusst einen weiteren Gefallen, indem er schmerzgepeinigt aufbrüllte und damit sämtliche Aufmerksamkeit auf sich zog. In diesem Moment entschied sich Nubrax alles auf eine Karte zu setzen und warf seinem Gegner mit ganzer Kraft den Dreck ins Gesicht, woraufhin der reflexartig den Kopf zur Seite drehte und sich die Hände vors Gesicht hielt.
»Scheiße! Du verdammter, kleiner ...«, begann der albische Soldat zu fluchen, doch er wurde von seinem eigenen Schmerzensschrei unterbrochen, als Nubrax ihm noch im Liegen das Messer in den Fuß jagte. Das derbe Stiefelleder war nicht in der Lage, dem Zwergenstahl standzuhalten, der sich nun erbarmungslos in den Knochen bohrte.
Noch immer hielt der Prinz die Waffe an der Schneide gepackt, so wie er sie im schmutzigen Laub zu greifen bekommen hatte. Nach beiden Seiten hin schnitt sich das scharfkantige Metall ins Fleisch seiner Finger, als er es noch fester zu umgreifen versuchte, aber das qualvolle Aufheulen des Alben war es allemal wert.
Schon fiel die hünenhafte Kreatur, gleich einem gefällten Baum, nach hinten über und landete mit dem Oberkörper in den Dornen eines Gebüschs. Im gleichen Maße wie der Alb zu Boden ging, schien Nubrax förmlich auf die Beine zu fliegen, sodass die feuchte Erde, welche seinen kompakten Körper von oben bis unten besudelte, nach allen Seiten hin von ihm abfiel.
»Verrecke, du schwarzäugige Missgeburt!«, versuchte er zu sagen, doch die Beschimpfung hörte sich wie das bedrohliche Zischen einer Schlange an. Mit einem Sprung überwand der Zwerg die kurze Distanz, ließ dabei das Messer los und fing es beinahe im gleichen Augenblick mit geübtem Handgriff wieder so auf, dass sich seiner Finger nun zur Gänze um das fein gearbeitete Holz schlossen. Der Alb war viel zu überrumpelt, als dass er noch in der Lage gewesen wäre, sich zu verteidigen. So drückte Nubrax ihm die Schwerthand beinahe schon spielerisch zu Boden, während er sich mit seinem kompletten Körpergewicht auf die Brust des Mannes fallen ließ und ihn so am Boden fixierte.
Richte Loës schöne Grüße aus, wenn ich ihn dir bald hinterherschicke, verabschiedete Nubrax den Krieger in Gedanken, während er in weitem Bogen mit dem Messer ausholte, um es ihm bis zum Griff in die Kehle zu rammen. Er genoss es, die Furcht in den glänzenden Augen der Kreatur sehen, die ihn im Stehen fast um das Doppelte überragt hatte und nun, schockiert über die unerwartete Wendung, unter ihm zappelte. Doch urplötzlich ließ ihn der mahnende Schrei einer Frau innehalten.
»Nubrax, nein!« In seinem Kampfrausch hörte es sich für ihn so an, als käme die Stimme von ganz weit weg, trotzdem war der Zwerg wie festgefroren, als er sie vernahm. Unvermittelt und scheinbar grundlos ließ er die Klinge mitten in der Luft verharren. Wäre der Ruf einen Wimpernschlag später erfolgt oder nur um den Laut eines Vogelzwitscherns leiser gewesen, hätte sich das Blut des Alben nun über ihn ergossen.
Reglos verharrte Nubrax auf dem Rumpf des Schwarzäugigen und bemerkte dabei kaum, dass er ihm mit dem Knie die Luft abdrückte, sodass diesem das Atmen inzwischen fast schon schwerer fiel als ihm selbst. Der Sohne Boringars’ wagte noch immer nicht, sich zu rühren. Weder konnte noch wollte er den Blick vom angstverzerrten Gesicht seines Gegners abwenden. Zum einen, weil der Mann sein Schwert nach wie vor fest umklammert hielt, sodass er jeden Augenblick wieder zum Gegenangriff übergehen konnte. Zum anderen war er selbst wie versteinert, als die vertraute Stimme an sein Ohr gedrungen war.
»Hört auf zu kämpfen. Ihr beide, lasst sofort von den Zwergen ab«, wieder sprach die Frau. Ihre helle Stimme war gleichermaßen flehentlich wie befehlend. Doch als sie nach einem kurzen Moment der Pause zur Gänze aus dem dichten Geäst hervortrat, versanken ihre Worte förmlich in purem Unglauben.
»Nubrax? Kann das wahr sein?« Es war weniger eine Frage als mehr eine Aufforderung an den Zwerg, den Blick zu heben. Doch erst als der Alb unter ihm den Griff um sein Schwert löste, sodass es langsam zu Boden glitt und er als Zeichen seiner Niederlage beide Handflächen nach oben drehte, hob Nubrax zögerlich den Kopf.
»Bitte ... geh runter von mir«, hauchte der Alb, dessen Körper, gleich einem seidenen Spinnenfaden im Wind, vom durchbohrten Fuß an aufwärts immer stärker zu zittern begann. Der Zwergenprinz ignorierte ihn jedoch.
Wie selbstverständlich schien der Soldat davon auszugehen, dass sein Feind nun von ihm ablassen würde und er sich seiner Wunde zuwenden konnte. Nubrax verharrte allerdings unverrückbar wie mittelbergischer Fels auf