Um Einheitlichkeit im gesamten Verwaltungsverfahren zu erzielen, wurden viele Normen des Verwaltungsverfahrensgesetzes wörtlich übernommen. Abweichungen sind in den Bereichen zu finden, die aufgrund der Besonderheiten des Sozialrechts notwendig waren. So werden in den rechtlichen Normen des Zehnten Buchs u. a. Regelungen zur Zuständigkeit getroffen (§ 2 SGB X), Verfahrensgrundsätze benannt (§§ 8–25 SGB X), Regelungen zum Zustandekommen, der Begründung und den besonderen Anforderungen an einen Verwaltungsakt (§§ 31–34 SGB X) sowie Bestimmungen zur Aufhebung von Verwaltungsakten (§§ 44–49 SGB X) getroffen.
1.3.5Allgemeine Grundsätze des Leistungsrechts
Dem Vorbehalt spezieller Regelungen in den anderen Büchern unterliegen die §§ 38–59 SGB I, die im Leistungsrecht als Grundsatz anzuwenden sind, sofern es dazu keine vorrangige Regelung gibt.
Auf Sozialleistungen besteht gemäß § 38 SGB I ein Anspruch, soweit die Spezialnorm den Leistungsträger nicht ermächtigt, nach Ermessen zu handeln. Ein Rechtsanspruch auf eine Sozialleistung besteht demnach dann, wenn die Voraussetzungen nach der Spezialnorm erfüllt sind und in dieser Norm dem ausführenden Leistungsträger kein Ermessen eingeräumt wurde. Dem Bürger wird damit ein einklagbares Recht auf die Leistung gewährt. Die Verwaltung hingegen wird zur Leistung bei Vorliegen der Voraussetzungen verpflichtet.
Abzugrenzen ist der Rechtsanspruch aus § 38 SGB I zur Ermessensleistung nach § 39 SGB I.
Wird dem Leistungsträger in einer Rechtsnorm Ermessen eingeräumt, so besteht der Anspruch des Antragstellers in der ordnungsgemäßen und pflichtgemäßen Ermessensausübung durch den Leistungsträger (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB I). Mit Ermessensregelungen werden der Verwaltung vom Gesetzgeber Gestaltungsspielräume eingeräumt. Das Ermessen ist entsprechend dem Zweck der Norm und unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen auszuüben.
Die Behörde muss ihre Entscheidung begründen und dabei erkennen lassen, dass sie Ermessen ausgeübt hat. Insbesondere gilt es zu begründen, wie sie zu dieser Ermessensentscheidung gekommen ist. Wird eine Entscheidung der Behörde gerichtlich überprüft, deren Grundlage eine Ermessensnorm war, konzentriert sich die Prüfung allein darauf, ob der Behörde bei der Ausübung des Ermessens Fehler unterlaufen sind, d. h., wurde Ermessen erkannt und ausgeübt und wurden dabei keine sachfremden Erwägungen einbezogen. Weiterhin wird geprüft, ob die Entscheidung im rechtlich eingeräumten Ermessensrahmen getroffen wurde.
Die Leistungen werden mit Entstehen fällig (§ 41 SGB I). Besteht Anspruch auf eine Geldleistung dem Grunde nach, aber zur Feststellung der Höhe ist noch längere Zeit erforderlich, kann der zuständige Leistungsträger Vorschüsse zahlen, deren Höhe im pflichtgemäßen Ermessen des Trägers steht (§ 42 SGB I).
Bis zum 31.07.2016 wurde die Vorschussregelung nach § 42 SGB I auch bei der Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II angewendet, da es eine Spezialnorm dazu im SGB II nicht gab. Mit der Einführung des § 41a SGB II am 01.08.2016 im Rahmen des 9. Änderungsgesetzes wurde eine Spezialnorm geschaffen, nach der eine vorläufige Bewilligung (quasi als Vorschuss) erfolgen muss, sodass § 42 SGB I im SGB II keine Anwendung mehr findet.
Die Auszahlung von Geldleistungen soll kostenfrei auf ein Konto des Empfängers bei einem Geldinstitut erfolgen (§ 47 SGB I).
Weiterhin regeln die §§ 51, 52 sowie 53 ff. SGB I die Aufrechnung, Verrechnung sowie die Übertragbarkeit und Pfändbarkeit von Leistungsansprüchen. Hierzu gibt es allerdings Spezialregelungen im SGB II und SGB XII.
1.3.6Mitwirkungspflichten (§§ 60–67 SGB I)
Der Sozialleistungsträger unterliegt beim Verwaltungsverfahren dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 20 SGB X. Er ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt dabei, in welcher Art und in welchem Umfang eine Sachverhaltsermittlung notwendig ist. Der Leistungsberechtigte ist jedoch zur Mitwirkung bei der Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet. § 60 SGB I regelt dabei die Verpflichtung zur Angabe von Tatsachen, § 61 SGB I regelt die Pflicht des persönlichen Erscheinens, §§ 62 und 63 regeln die Pflicht zur Teilnahme an ärztlichen Untersuchungen und ggf. zur Durchführung von Heilbehandlungen. Auch die Pflicht zur Teilnahme an berufsfördernden Maßnahmen ist als zentrale Mitwirkungspflicht in § 64 SGB I geregelt. Das SGB II enthält wie andere spezielle Sozialleistungsbücher gesondert geregelte Mitwirkungspflichten, die die allgemeinen aus dem SGB I konkretisieren oder ausweiten.
Zur Mitwirkung sind neben dem Antragsteller auch Personen verpflichtet, die Sozialleistungen erhalten, z. B. auch ohne eigene Antragstellung.
Die Grenzen der Mitwirkungspflichten liegen im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 65 SGB I). Ist die Mitwirkungsverpflichtung des Betroffenen unwirtschaftlich oder unzumutbar oder kann der Leistungsträger die geforderten Erkenntnisse durch geringeren Aufwand selbst beschaffen, so entfällt die Verpflichtung des Betroffenen.
In § 66 SGB I sind die Folgen fehlender Mitwirkung geregelt. Kommt der zur Mitwirkung Verpflichtete seiner Mitwirkung nicht nach und wird dadurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, können beantragte Leistungen ganz oder teilweise versagt werden bzw. bereits bewilligte Leistungen ganz oder teilweise entzogen werden.
Wird die Mitwirkung nachgeholt, kann der Leistungsträger die Leistung ganz oder teilweise auch nachträglich erbringen (§ 67 SGB I).
Bevor Leistungen versagt oder entzogen werden, sollte also immer geprüft werden, ob
•Unterlagen ordnungsgemäß angefordert wurden (d. h. genaue Bezeichnung der Unterlagen, schriftliche Anforderung, angemessene Frist und mit der richtigen Rechtsfolgenbelehrung),
•die Anforderung für den Antragsteller zumutbar war,
•eine Beschaffung der Angaben/Unterlagen von Amts wegen nicht möglich war oder ist,
•tatsächlich die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wurde bzw. nicht möglich ist (sind die angeforderten Unterlagen tatsächlich zwingend notwendig, oder kann ich auch ohne die Angaben/Unterlagen entscheiden?).
Liegen die Tatbestände alle vor, ist Ermessen auszuüben, ob Leistungen versagt oder entzogen werden und, wenn ja, ob ganz oder teilweise. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob über einen Teil der Leistungen trotz erschwerter Sachverhaltsaufklärung entschieden werden kann.
Eine Versagung bzw. eine teilweise Versagung ist die Rechtsfolge, wenn durch nicht eingereichte Unterlagen oder nicht gemachte Angaben über Leistungen, die beantragt wurden, nicht entschieden werden kann. Werden Leistungen bereits erbracht und im Laufe der Erbringung werden Unterlagen nicht vorgelegt, die die Prüfung der weiteren Anspruchsvoraussetzungen erheblich erschweren, ist die Rechtsfolge der Entzug der Leistungen.
Wird die Mitwirkung nach Erlass der Versagung bzw. Entziehung nachgeholt und liegen dann die Leistungsvoraussetzungen zweifelsfrei vor, kann der Leistungsträger die Leistungen, die er versagt oder entzogen hat, ganz oder teilweise erbringen (§ 67 SGB I). Auch bei dieser Entscheidung ist Ermessen auszuüben.
1BVerfG, Urteil vom 18.7.1967, 2 BvF 3/62; 2 BvF 4/62; 2 BvF 5/62; 2 BvF 6/62; 2 BvF 7/62; 2 BvF 8/62; 2 BvR 139/62; 2 BvR 140/62; 2 BvR 334/62; 2 BvR 335/62
2Systematik und Grundsätze des SGB II und des SGB XII
2.1SGB II
In diesem Abschnitt erfolgt zusammenfassend ein Überblick über die Aufgabe