Was genau sah er, fragte ich mich. Eine junge, hübsche Frau mit ungewöhnlichen Haaren und stechenden Augen, die Prinzessin spielte? Oder eine Königin, bereit, alles dafür zu tun, um die Anderswelt zu verändern? Mein Kinn hob sich wie von selbst ein paar Zentimeter an und Narcos schenkte mir ein grausam schönes Lächeln, das mich spontan an einen Piranha erinnerte. Einen wirklich großen und wirklich gefährlichen Piranha.
»Meine Königin.« Er verneigte sich leicht und seine Wachen taten es ihm gleich.
»Ihr müsst müde sein. Curio wird Euch in meinen Salon führen, dort könnt Ihr und Eure Männer einen Moment ausruhen, während wir ein für Euch angemessenes … Mahl vorbereiten.«
Gespielt dankbar nickte ich ihm zu. Müde wovon? Einer Portalreise und einem zwanzigminütigen Marsch durch den Dschungel? Als ich zuletzt nachgeguckt hatte, waren wir alle noch unsterblich gewesen. Zumindest die Männer um mich herum.
Einer der Wachen, es war der, der auf Malik geschossen hatte, trat vor und bedeutete uns, ihm zu folgen. Nick griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. Aber ich hatte keine Zeit mich zu erklären, also schenkte ich meinem Bruder ein aufmunterndes Lächeln. Sie alle konnten mir die Hölle heiß machen, wenn wir wieder zurück waren. Mein Instinkt jedoch sagte mir, dass wir nicht lange hier blieben würden, denn mit Sicherheit war es kein Mittagsessen, das Narcos für uns zubereiten ließ. Also folgten wir Curio stumm, bis wir einen völlig übertriebenen, prunkvollen Salon betraten und sich die Tür mit einem leisen Klicken hinter uns schloss. Aufmerksam sah ich mich in dem hauptsächlich in blau gehaltenen Raum um. Shabby chic traf es wohl am ehesten. Keine Fenster. Ich sah mich weiter um. Nur eine Tür. Dies war kein Salon, sondern die perfekte Falle.
»Keine Fenster«, bemerkte Duncan hinter mir.
»Wir werden nicht lange hier sein«, beruhigte ich ihn und drehte mich zu den Männern um. Sie alle beobachteten mich neugierig.
»Was in Abbadons Namen geht hier vor, Lilly?« Nick fuhr sich durch die kurzen blonden Haare.
Ich brauchte nur einen Moment. Einen passenden, ungestörten Moment. Unter den aufmerksamen Blicken der Männer ging ich zur Tür und riss sie auf. Zumindest war sie nicht verschlossen.
»Wachen!«, rief ich und prompt erschien Curio in meinem Sichtfeld. Wenig begeistert musterte er mich.
»Eure Hoheit?«
»Ich möchte mich gern frisch machen«, verkündete ich hoheitsvoll, »schickt mir eine Dienstmagd, um mir dabei zu helfen.«
»Sehr wohl, Hoheit. Einen Augenblick, bitte.« Curio eilte davon und ich schloss die Tür.
»Hat hier noch jemand das Gefühl, im falschen Film zu sein?« Duncan fixierte mich. »Was hast du vor?«
»Mich frisch machen.«
»Erzähl uns keinen Scheiß, Mädchen.«
»Lilly …«
Lucan, vertrau mir. Bitte.
Er wandte sich grummelnd ab.
Wenn dir etwas passiert, bringe ich dich um.
Ich belohnte ihn mit einem raschen Lächeln.
»Vertraut mir einfach, okay? Ich weiß, es ist viel verlangt, aber spielt mit.« Ich fixierte Malik beinahe flehend. »Bitte.«
»Was bleibt uns auch anderes übrig?« Nick zuckte ungewohnt lässig mit den Schultern, aber ich sah die Sorge in den Augen meines Bruders. »Langsam gewöhnen wir uns an deine Eskapaden.«
»Ich nicht«, fügte Malik hinzu und erwiderte meinen Blick gereizt. Die Wachen hinter ihm warfen ihrem General einen mitfühlenden Blick zu. Augenrollend wandte ich mich ab. Als ob ich so schlimm war …
Es klopfte an der Tür und ein junges Mädchen trat ein. Den strahlend blauen Haaren nach zu urteilen eine gebürtige Najade.
Zumindest behauptete das die Enzyklopädie der Wasserwesen, in der ich zuletzt gelesen hatte. Schüchtern, wenn nicht sogar ängstlich, musterte sie unsere bis an die Zähne bewaffnete Gruppe. Ihr Blick wanderte über die furchteinflößenden Krieger, die wie eine stoische Wand aus Waffen und Muskeln hinter mir Stellung bezogen hatten, ehe er an mir hängen blieb.
»Eure Hoheit«, verneigte sie sich artig, »Ihr habt nach mir verlangt.«
»Bring mich in ein Gemach, in dem ich mich frisch machen kann.«
»Natürlich, Hoheit.«
Malik wollte sich bewegen, aber ich schüttelte energisch den Kopf.
»Ich gehe alleine.«
»Einen Scheiß wirst du!«
»Kommt nicht in Frage!«
»Ich gehe alleine«, wiederholte ich betont ruhig und warf Lucan einen eindeutigen Blick zu.
Wiederwillig nickte er.
»Geh nicht zu weit, Prinzessin, und wenn etwas ist, weißt du, wie du mich erreichst.«
Nick und Malik wirbelten gleichzeitig zu Lucan herum. Ungläubig starrten sie ihn an.
»Du lässt sie alleine gehen?«
»Sie kann auf sich aufpassen«, antwortete Lucan und setzte sich breitbeinig auf einen der winzigen Stühle. Eines seiner Katana lag dabei bedrohlich auf seinen Oberschenkeln, während das andere in der Halterung auf seinem Rücken ruhte. Alles in allem sah der Assassine, ganz in schwarz gekleidet und voller Waffen, angsteinflößend und tödlich aus.
»Lasst sie gehen.«
Danke.
Sei vorsichtig. Immer.
KAPITEL 9
Ich schlüpfte aus dem Raum und folgte der anderen Frau in den Korridor hinaus. Sie führte mich ein paar Türen weiter in einen ebenso renovierungsbedürftigen Raum, wie den, in dem die anderen auf mich warteten. Wahrscheinlich ein Gästezimmer, dachte ich, und inspizierte meine neue Umgebung beiläufig. Dann drehte ich mich zu der Dienstmagd um. Jetzt wurde es interessant. Scio hatte mir Hilfe versprochen, allerdings war er in seiner Ausführung äußerst vage geblieben. Da ich jedoch nicht hier rumlaufen und aktiv nach Hilfe suchen konnte – was sollte ich auch sagen? Hallo, hat einer von euch Lust euren König zu verraten? – musste ich es so probieren.
»Wie lautet dein Name?«
»Maeve, Hoheit.«
»Maeve«, wiederholte ich ihren Namen. Hübsch. »Bist du loyal gegenüber Narcos?«, kam ich direkt zum Punkt.
»Wa-as?« Schockiert sah sie mich an. Die hellgrauen Augen dabei ein starker Kontrast zu ihren blauen Haaren. »Ich verstehe nicht, Hoheit …«
Während die Najade sichtlich um Fassung rang, erinnerte ich mich an Scios Worte, die Olli mir mit auf den Weg gegeben hatte. Da die Gelehrten einen Hang dazu hatten, sich äußerst dramatisch auszudrücken, hatte ich mir nur die wichtigsten Details abgespeichert: Najade. Palast. Kreisförmige Narbe. Grimmoire. Abhauen.
Die ersten zwei Punkte konnte ich bereits abhaken.
»Hast du irgendwelche Narben am Körper?« Auch diese Frage schien sie zu überraschen.
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Narben«, wiederholte ich und verbannte die Ungeduld aus meiner Stimme.
Maeve räusperte sich leise. »Ja, ich … es gab einen Zwischenfall vor etwa zehn Jahren. König Narcos war unzufrieden mit mir. Als Bestrafung hielt er meine Hände über die blauen Flammen der Chrona.«
Ihre Geschichte lenkte mich für einen kurzen Augenblick von meiner eigentlichen Mission ab. Scio hatte zwar vorhergesehen, dass ich auf