»Mein Name ist Lillianna Callahan, Prinzessin Alliandoans. Ich bin auf Einladung Eures Königs hier.«
Einen Moment lang war es absolut still auf der Lichtung. Dann jedoch verwandelten sich die Blätter und Bäume um die Ruine herum in Männer. Krieger, um genau zu sein.
Mindestens zwanzig, in dunkles Leder gekleidete Wachen traten aus dem grünen Dickicht, das sie – höchst wahrscheinlich mit Hilfe ihrer Magie oder eines Zaubers – als Tarnung verwendet hatten, und erschienen auf der Lichtung vor uns. Einer von ihnen, ein großer, grimmig aussehender Unsterblicher mit blauschwarzen langen Haaren, trat vor und musterte unsere Gruppe aufmerksam.
»Keine Waffen.«
»Keine Waffen, kein Treffen«, antwortete Malik und trat unbeeindruckt um den Pfeil herum. Die Männer vor uns hoben Pfeil und Bogen und alle Pfeilspitzen richteten sich geradewegs auf meinen General. Duncan hüpfte nervös von einem Bein auf das andere und wahrscheinlich wäre er vorgeprescht, hätte Lucan nicht gebieterisch eine Hand gehoben.
»Das würde ich nicht tun an eurer Stelle.«
Lucans Stimme war ruhig. Kaum wahrnehmbare Schatten umgaben den Assassinen und seine Gestalt flackerte bedrohlich, bereit einzugreifen, wenn nötig. Wie immer konnte solch eine Situation den Assassinen-König nicht aus der Ruhe bringen. Er war bereit, aber alles andere als nervös. Der Blick der Wachen wanderte vorbei an Malik, zu mir und letztendlich zu Lucan. Ein paar der Krieger schienen zu verstehen, wer dort vor ihnen stand, denn ihre gespannten Bögen senkten sich leicht.
Obwohl sie in der Überzahl waren, zweifelte ich nicht im Geringsten daran, dass wir sie fertig machen könnten. Ich hatte die Assassinen bereits in Aktion erlebt und niemand, absolut niemand kämpfte so wie Lucan und seine Männer. Wahrscheinlich würden King, Duncan, Alex und er die Männer vor uns auslöschen, ehe Malik oder einer meiner Wachen auch nur reagieren konnten. Offensichtlich waren Narcos Männer zu dem gleichen Schluss gekommen, denn einer nach dem anderen senkten sie ihre Waffen.
Ihr Anführer verstaute seinen Bogen, drehte sich um und dort, wo ich bis eben nur Blätter und Büsche erkannt hatte, offenbarte sich ein Durchgang. »Folgt uns.«
»Keine Spontanaktionen«, sagte Malik und drehte sich zu mir um.
»Du bleibst im Hintergrund, Lilly und keine Spontanaktionen.«
Heilige Balance. Malik hatte sich noch immer nicht von Vesteria erholt, was würde passieren, wenn er erfuhr, warum ich wirklich hier war? Ich nickte nicht weniger grimmig und eingekesselt durch Lucan und Nick, folgte ich Malik und seinen Männern durch ein paar enge, überwucherte Gänge hinein in den Palast. Duncan, King und Alex bildeten das Schlusslicht.
Von außen unscheinbar, war Narcos Palast im Inneren umso beeindruckender. Kleine Flüsse flossen durch die großzügigen Korridore des Palastes. Risse zogen sich durch den blau schimmernden Boden, Gemälde hingen schief und ganze Tapetenfetzen fehlten an den überwucherten Wänden. Die Decken waren bedeckt von Schlingpflanzen und mehrere Kronleuchter baumelten mal stabil, mal weniger stabil von der Decke des großen, luftigen Thronsaales, den wir soeben betraten.
Obwohl alles heruntergekommen und vernachlässig wirkte, war der Prunk noch immer zu erkennen. Der Palast musste einst prachtvoll gewesen sein. Bevor Narcos ihn unter die Erde befördert hatte.
Narcos selbst ausfindig zu machen, war nicht schwer. Der falsche König saß auf einem beinahe durchsichtigen, sich bewegenden Thron inmitten des Raumes. Ich schaute genauer hin und tatsächlich, es war Wasser. Er saß auf einem Thron aus Wasser. Seine langen, bläulichen Haare flogen um sein hageres Gesicht und er schenkte mir ein haifischartiges Lächeln, wobei er eine Reihe spitzer, kleiner Zähne enthüllte. Offensichtlich wehte hier unten eine Brise, die nur Narcos zu erreichen schien, denn weder wir noch die Wachen hinter Narcos, wurden von dem Windhauch erfasst. Es war eine dramatische Geste, eine Showeinlage, mehr aber auch nicht. Die fast weißen Augen des falschen Königs waren fest auf mich gerichtet. Aus der Entfernung hatte seine weiße Haut wachsartig und leblos ausgesehen, jetzt aber, da wir nähertraten, erkannte ich einen hübschen, blauen Schimmer. Beinahe so, wie die Schuppen eines bunten Fisches. Von allen Unsterblichen, die ich bis jetzt gesehen und kennengelernt hatte, waren die Engel, rein optisch betrachtet, die äußerlich unscheinbarsten. Mit Sicherheit war das einst anders gewesen, damals, als sie – als wir – ein Paar beeindruckender Flügel vorzuweisen gehabt hatten. Da dies jedoch nicht mehr der Fall war, sahen die meisten Engel zwar interessant, aber weitestgehend normal aus. Eine fiese Täuschung. Narcos hingegen glich einem Wesen aus einem Märchenbuch. Oder einem Horrorfilm.
Ich sammelte mich einen Moment und trat vor.
»Narcos!«, begrüßte ich den halbnackten Mann vor mir übertrieben fröhlich. Immerhin hatte ich eine Mission.
»Eure Hoheit«, erwiderte dieser meine Begrüßung, trotz des irren Glitzerns seiner Augen, förmlich. »Was führt Euch in mein bescheidenes Reich?«
»Sag du es mir«, konterte ich und inspizierte die Fingernägel meiner rechten Hand. Ob ich meine Nägel das nächste Mal rot lackieren sollte? Narcos lehnte sich in seinem Thron nach vorn und musterte mich aus gierigen, jetzt milchig gelben Augen. Ich hatte mich vorab dafür entschieden, auf jegliche Formalität zu verzichten. Erstens, weil Narcos keinerlei Respekt von mir verdient hatte, und zweitens, weil ich ihm direkt klar machen wollte, wer hier vor ihm stand. Ich würde mich nicht von ihm einschüchtern lassen, ganz gewiss nicht.
»Ich hörte von Vesteria, einem Magister Namens Scio und Eurer neuen Freundin Odile, Königin der Harpyien.«
Fragend hob ich eine Augenbraue. »Schreibst du ein Buch?«
Die Männer hinter mir schwiegen, aber ich spürte ihre irritierten Blicke in meinem Rücken deutlich.
Was wird das, Prinzessin? Geduld, Lucan.
»Humor, welch … erfrischende Eigenschaft, Eure Hoheit.«
»Sag mir, Narcos«, drehte ich den Spieß um, »wie geht es Cassiopeia und Lavender?«
Die Augen des falschen Königs weiteten sich, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle.
»Jetzt seid Ihr es, Hoheit, die eine Geschichte erzählt.«
»Vielleicht«, gab ich zu, »vielleicht aber auch nicht.«
Dann wandte ich mich ab und begegnete den neugierigen und vor allem verständnislosen Blicken meiner Männer. Ich zwinkerte ihnen kurz zu und zog Nick schwungvoll neben mich.
»Mein Bruder«, stellte ich Nick vor, »Nickolas Marcus Callahan, Prinz von Alliandoan.«
Danach stellte ich meine Begleiter einen nach dem anderen vor. Auch die Männer meiner Königsgarde, die mich überrascht ansahen. Aber Narcos sollte sehen, mit wem ich hier unterwegs war. Ich allein war mittlerweile nicht mehr zu unterschätzen, aber ich war in Begleitung von einem Dutzend tödlicher Männer. Vier davon waren die tödlichsten Krieger der Anderswelt und ich war die Gefährtin ihres Anführers.
Welches Spiel spielst du, Liebes?
»Es ist mir eine Ehre, Euch in Crinaee begrüßen zu dürfen.«
»Ah, wie charmant«, bemerkte ich beiläufig. »Charmant, charmant«, ich seufzte, »aber unnötig.«
Narcos Augen fixierten mich reptilienhaft und die Wachen neben und hinter ihm versteiften sich. »Unnötig inwiefern?«
»Deine Schmeicheleien sind nett, Narcos, aber wie, frage ich mich, soll ich einem Mann glauben, der sein Königreich durch Mord gewonnen hat?«
Ein Raunen ging durch den Thronsaal und ich ließ meine Worte kurz wirken. Ich spielte in der Tat ein gefährliches Spiel, aber ich hatte mich sorgfältig auf diesen Besuch vorbereitet.
»Aber«, fügte ich hinzu, bevor Narcos etwas erwidern konnte, »ich bin bereit, mich umstimmen zu lassen. Ich