Ciel berührte ihre geschundene Wange, die bläulich angelaufen war. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Mir geht es gut.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, dir geht es nicht gut.«
Ciel seufzte und schaute nach unten. Ja, sie fühlte sich wirklich mies, war immer noch schrecklich verwirrt und hatte Angst. Nach allem, was ihr in letzter Zeit Furchtbares geschehen war, auch kein Wunder. Aber Oscuro konnte unmöglich in ihre Seele schauen. Er konnte unmöglich von all diesen Dingen wissen.
»Hey, aber vielleicht kann ich dir helfen, dass du dich wenigstens ein bisschen besser fühlst.« Er lächelte sie an. »Komm mit!« Erneut griff er nach ihrer Hand.
Sie starrte auf seine blassen Finger und zuckte zusammen, als sie kleine Blutspritzer an ihnen kleben sah. »Oscuro, bitte tu das nie wieder«, flüsterte sie.
Er lachte, klang aber sehr ernst, als er meinte: »Ob ich das wieder tue, liegt an diesen Dreckschweinen und daran, ob sie es wagen, dich noch einmal zu verletzen.«
»Das werden sie nie wieder tun. Sie sind vermutlich in einem Krankenhaus und dort …«
»Nein, ich meine nicht nur diese Typen. Ich meine die Menschen. Alle Menschen auf dieser Welt, die Schwächere verletzen, obwohl sie selbst in Wirklichkeit nichts weiter als erbärmliche Kreaturen sind. Mörder, Vergewaltiger, Monster …« Unvermittelt grinste er wieder. »Aber lass uns nicht mehr darüber sprechen. Es wird Zeit, dass ich mein Bestes gebe, um dich wieder aufzupäppeln.«
Er führte sie einen abgeschiedenen sandigen Weg hinauf. Hohe Grashalme wiegten sich rauschend im Wind. Möwen zogen am Himmel kreischend ihre Runden. Schließlich kamen sie an einer Stelle am Strand an, an der Ciel noch nie gewesen war. Sie standen auf einer Düne. Vor ihnen erstreckte sich das weite Meer. Ciel atmete die salzige Luft ein, berührte mit den Händen die piksenden Grashalme und blickte sich um. Da bemerkte sie einen Picknickkorb, der einsam mitten auf der Düne stand. Genau dort führte Oscuro sie hin.
»Ich wollte nach dir suchen und dich einladen. Doch ich war mir nicht sicher, ob wir uns wirklich noch mal begegnen würden. Ich weiß doch, wie sehr du leidest, und dir kaum etwas zu essen leisten kannst.« Oscuro lächelte sie traurig an.
Sie fragte sich, woher er das wusste. Schließlich kannten sie sich kaum. Bei Lucien war es auch so gewesen. Auch er wusste eine Menge über sie, obwohl sie sich nur einmal zuvor begegnet waren.
Oscuro fuhr einfach fort, ohne auf ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck einzugehen: »Du bist nur Haut und Knochen. Also beschloss ich, dich zu einem kleinen Picknick einzuladen, wenn ich dich finden würde. Und keine Sorge, hierher kommt niemand. Dieser Ort ist abgeschieden.«
Als sie vor dem Picknickkorb standen, hob er den Deckel und zog eine Decke hervor, die er im Sand auf den Grashalmen ausbreitete. Dann bedeutete er Ciel, sich zu setzen. Sie ließ sich auf der Decke nieder, und Toivo sprang ihr auf den Schoß. Fasziniert sah sie zu, wie er mehrere Sachen aus dem Korb herausholte und auf der Decke verteilte. Zwei große Wasserflaschen, Äpfel und Birnen, ein paar Scheiben Vollkornbrot, Schafskäse, mehrere Hähnchen-Wraps, Tomaten und Mandarinen, Laugenstangen, Wurst, Käse und ein Baguette.
»Bedien dich!« Oscuro lächelte sie freudig an.
Ciel starrte auf die vielen leckeren Sachen. Sie spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief und ihr Magen mit einem lauten Knurren antwortete. Sie errötete und schlang sich die Arme um den Bauch. »Warum machst du das? A-also, i-ich meine, ich fühle mich geehrt, von dir zu einem solch wundervollen Picknick eingeladen zu werden.« Sie fuhr sich nervös durch die Haare. »Niemand hat mich zuvor zu etwas eingeladen. I-ich w-weiß nicht, ob ich das annehmen kann.«
»Komm schon, sei nicht so schüchtern. Mund auf!«
Oscuro hielt ihr den Hähnchen-Wrap vor den Mund. Sie wollte den Kopf wegdrehen, denn sie spürte, wie ihr vor Rührung die Tränen kamen. Doch sie war zu hungrig, um Oscuros nette Geste abzulehnen. Sie öffnete den Mund, und biss ein Stück ab.
Er lächelte zufrieden, als sie den Wrap nahm und erneut abbiss.
»Oscuro, ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist köstlich und ich bin dir wirklich sehr dankbar. Ich verspreche dir, mich zu revanchieren, sobald ich Geld habe, aber …«
Er legte ihr seine Hand auf die Schulter. »Schon gut. Hier, iss so viel du willst.« Er nahm eine Gabel mit einem Stück Schafskäse und führte auch die an ihren Mund.
Ciel wischte sich die Tränen fort, bevor sie von dem leckersten Käse probierte, den sie jemals gegessen hatte.
»Oh, für deinen Hund habe ich auch etwas.« Oscuro griff in den Korb und holte zwei Näpfe und eine Dose mit Hundefutter heraus. Er öffnete die Dose und schüttete das Futter in einen Napf hinein. In den anderen füllte er Wasser.
»Vielen Dank, Oscuro«, hauchte Ciel gerührt, als sie ihrem Hund beim Fressen zuschaute.
Er griff besorgt nach ihrer Hand. »Tun deine Verletzungen noch sehr weh?«
Sie berührte mit der anderen Hand ihre schmerzende Wange und zuckte zusammen. »Ist halb so schlimm«, entgegnete sie schnell. »Es tut nur noch ein klein wenig weh.«
»Kühl sie, sonst wird sie noch dicker.«
Oscuro nahm ein Tuch aus dem Korb, feuchtete es mit dem Wasser aus der Flasche an und fuhr damit vorsichtig über die verletzte Stelle auf Ciels Wange. Sie zuckte kurz zusammen, als er ihr das Blut von der Lippe wischte, doch die Kälte des Wassers tat gut.
»Es tut mir so leid, was geschehen ist. Ich wünschte, ich könnte dir den Schmerz nehmen.« Er seufzte leise.
»Du hast schon viel zu viel für mich getan.« Sie lächelte.
»Hey, vielleicht können wir uns ja öfter sehen? Wenn du willst …« Oscuro lächelte sie schüchtern an, als befürchtete er, sie würde Nein sagen.
Doch Ciel nickte begeistert. »Ja. Ich würde mich sehr freuen.«
Seine eisblauen Augen leuchteten erfreut auf. »Sag, was wird jetzt aus dir?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.« Ich muss Heaven finden, dachte sie, doch sie sprach es nicht aus. Dann schaute sie ihn neugierig an, denn nun beschäftigte sie eine ganz andere Frage. »Du kennst Lucien, richtig?«
Als Oscuro nickte und sagte: »Früher waren wir sogar mal Freunde«, zog sie die Augenbrauen hoch.
»Ähm, wie geht es ihm? Ich weiß kaum etwas über ihn, aber er viel über mich. Das ist fast unheimlich. Und du weißt auch eine Menge über mich. Woher?«
Eine sanfte Brise wehte durch Oscuros schwarze Haare. Er wich ihrem Blick aus, schaute zum Meer hinaus und dachte einen Moment lang schweigend nach. So lange, dass Ciel sich innerlich verfluchte, diese Fragen gestellt zu haben. Es war offensichtlich, dass Oscuro keine große Lust zu haben schien, über Lucien zu sprechen.
Doch schließlich sagte er: »Lucien und ich, wir sind zusammen zur Schule gegangen. Wir sind damals oft an dem Laden vorbeigegangen, in dem du gearbeitet hast. Haben gesehen, wie sehr du dich gequält hast. Da wollten wir dir helfen.«
Ciel warf ihm einen fragenden Blick zu. Sie hatte das eigenartige Gefühl, dass er sie anlog.
»Sieh uns beide einfach als deine Schutzengel an, okay?« Er lächelte und seine eisblauen Augen leuchteten wie der weite Ozean. »Schutzengel, die ein armes Mädchen im Auge behalten und dafür sorgen, dass ihr Leid wenigstens ein klein wenig abnimmt.«
»Danke! Aber ihr hättet euch ruhig trauen können, mich anzusprechen. Ich habe keine Freunde und …«
»Wir wollten uns nicht zu sehr in dein Leben einmischen«, unterbrach Oscuro sie. »Menschen können so in große Schwierigkeiten geraten. Manchmal denkt man, etwas Gutes zu tun, doch oft erreicht man