Engelszwillinge. Laura Wille. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Laura Wille
Издательство: Автор
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Год издания: 0
isbn: 9783964640512
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habe dir eine ganz bestimmte Medizin gegeben, die die schlimmsten Verletzungen binnen Sekunden heilt«, erklärte Lucien, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Aber ich war mir nicht sicher, ob sie bei dir auch funktionieren würde.«

      Es stimmte, die äußeren Verletzungen waren zwar verschwunden, aber sie fühlte sich noch immer wahnsinnig erschöpft und müde.

      Als er ihr halb den Rücken zukehrte, um aus einem Eimer mit kaltem Wasser ein nasses Tuch herauszufischen, sah sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war nur ein kurzer Moment, den er sich von ihr abwandte, aber Ciel glaubte, zwei schmale Risse im Rücken seines weißen T-Shirts zu sehen.

      Lucien wrang das Wasser aus dem Tuch und legte es ihr auf die Stirn.

      »Bist du verletzt?«, wollte sie wissen.

      Er war doch mit Toivo vom Feuer eingeschlossen gewesen und doch schien er vollkommen unverletzt zu sein. Bis auf diese Schrammen am Rücken.

      Doch Lucien schüttelte den Kopf. »Mir geht es gut.«

      Er berührte mit seiner nassen Hand sanft Ciels Wange. Sie schloss die Augen, genoss die Kälte des Wassers auf ihrer Haut und gleichzeitig die Wärme und Geborgenheit, die er ausstrahlte. Noch nie hatte jemand sich so liebevoll um sie gekümmert, wie er es tat. Und es tat so gut!

      Er erhob sich und schaute zu ihr herunter. »Ich kann dir nicht sagen, wie unendlich leid mir das alles tut«, flüsterte er traurig. »Ich hätte das nicht tun dürfen, dir das niemals erzählen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass es dich innerlich zerreißen würde, die Wahrheit zu hören.«

      »Ist es das wirklich?«, flüsterte Ciel. »Die Wahrheit?« Sie griff nach seinem Hosenbein, um ihn am Gehen zu hindern. Obwohl sie sich kaum kannten, obwohl er ihr irgendwie unheimlich war, so wollte sie doch, dass er bei ihr blieb. Es war vollkommen unlogisch, aber sie fühlte sich bei ihm trotz der verrückten Sachen, die er sagte, sicher und geborgen in seiner Nähe.

      Lucien bückte sich und strich ihr über das Haar, über die Wangen, dann mit dem Handrücken ihren Hals hinab.

      »Schlaf jetzt, Ciel. Du brauchst viel Erholung. Selbst meine Kräfte reichen nicht aus, um so ein mächtiges Geschöpf wie dich völlig von schweren Brandverletzungen und Fieber zu befreien.« Er lächelte, wirkte aber selbst erschöpft. »Aber vergiss nicht, dass du niemals allein bist, auch wenn dir alles hoffnungslos erscheinen mag.«

      Ciel blickte in seine schönen smaragdgrünen Augen und bemerkte, wie ähnlich sie ihren eigenen waren. Mit einem Mal klopfte ihr Herz, als würde es zerspringen. So laut und heftig wie noch nie. Doch es war nicht nur ihr Herz. Auch seines pochte laut. Ihre Herzen schlugen im Einklang, als seien sie eins. Auch seine Augen hefteten sich auf ihre, hielten sie gefangen. Er beugte sich langsam zu ihr. Sie hielt den Atem an, starrte auf seine Lippen, die immer näher kamen. Dann schloss sie die Augen. Würde er sie etwa küssen? Sie hatte noch nie einen Jungen geküsst. Gespannt wartete sie und bereitete sich darauf vor, den ersten Kuss ihres Lebens zu spüren.

      Doch der Kuss, den sie erwartete, kam nicht. Sie öffnete die Augen und sah, wie Lucien errötete und den Kopf zur Seite drehte.

      »Es tut mir leid«, nuschelte er undeutlich und ging schnell, fast schon fluchtartig zur Tür.

      Bevor er das Zimmer verließ, fielen Ciel erneut die breiten Risse in seinem T-Shirt auf. Sie starrte ihm hinterher und musste plötzlich geblendet die Augen zusammenkneifen, als sie ein gleißendes Licht sah, genau an der Stelle, wo Lucien stand. Dann öffnete er die Tür und war auch schon verschwunden. Mit seinem Verschwinden hinterließ er Kälte und Dunkelheit in ihrer schäbigen Wohnung. Als hätte er all das Licht und die Wärme mitgenommen.

      Sie zitterte und verspürte plötzlich den unerklärlichen Drang, aufzustehen und ihm zu folgen. Doch sie fühlte sie sich zu erschöpft und ausgelaugt. Lucien hatte recht. Sie brauchte jetzt Schlaf, um sich zu erholen. Als sie den Kopf drehte, fiel ihr Blick zum Fenster. Draußen funkelten die Sterne, und der Mond war umgeben von grauen Nebelfetzen. Sie wusste nicht, wie spät es war, doch sie glaubte, Luciens leise Stimme von draußen aus der Gasse zu hören. Und eine weitere Stimme, die sie schon einmal gehört hatte.

      War es Oscuro, der Junge mit den eisblauen Augen? Sie war sich nicht sicher.

      Eine bleierne Müdigkeit, gegen die sie sich nicht wehren konnte, überfiel sie mit aller Macht, ehe sie aufstehen und aus dem Fenster schauen konnte. Die Augen fielen ihr zu, und sie ließ sich von einem Traum entführen.

      »Oh, da braucht wohl jemand ein neues T-Shirt.«

      Oscuro lehnte an der Wand in der schmalen Gasse, unterhalb von Ciels Wohnungsfenster, und sah zu Lucien, der an ihm vorbeiging, ohne ihm Beachtung zu schenken. Oscuro blickte ihm mit schmalen Augen hinterher.

      »Sag schon, was hast du getan? Hat man dich in deiner wahren Gestalt gesehen? Du weißt, was die Königin gesagt hat! Wenn uns auch nur ein Mensch in unserer wahren Gestalt sieht, ist unsere Mission vorbei! Sie macht uns einen Kopf kürzer.«

      »Es hat mich niemand gesehen, also komm wieder runter.« Lucien blieb stehen und seufzte. »Der Engelszwilling des Lichts hatte sich nicht unter Kontrolle. Er hätte mich beinahe getötet.«

      Noch immer bereute er, es ihr gesagt zu haben. Es war dumm von ihm gewesen. Er hatte nicht nachgedacht. Dabei hatte die Königin ihm und Oscuro verboten, irgendetwas auszuplaudern, was Ciels und Heavens wahre Gestalten betraf. Hoffentlich hatte Lucien diese rote Linie nicht überschritten und so die Königin erzürnt. Die Zwillinge mussten sich von allein daran erinnern, was sie waren und wozu sie fähig sein konnten. Es konnte fatale Folgen haben, wenn Ciel und Heaven sich erinnerten, obwohl sie noch nicht bereit dazu waren – oder wenn Lucien und Oscuro sich zu sehr einmischten und den beiden Mädchen zu viele Hinweise gaben. Im allerschlimmsten Fall könnte es sogar so weit kommen, dass Ciel und Heaven sich überhaupt nicht verwandeln würden.

      Dann wären sie nutzlos, wie die Königin sagen würde, und sie würde sie einsammeln, vernichten und neu entstehen lassen. Oscuro und Lucien wären ebenfalls nutzlos, denn sie beide hatten nur diesen einzigen Zweck. Sie sollten den Zwillingen helfen, ihre wahren Gestalten anzunehmen. Doch Ciel und Heaven waren wie tickende Bomben, die jederzeit in die Luft gehen und Lucien und Oscuro töten konnten. Deshalb war Vorsicht geboten. Nur sie beide konnten diese Aufgabe bewältigen, weil sie einen Teil von Ciels und Heavens Kräften in sich trugen.

      Oscuro lachte. »Schade, dass es nicht geklappt hat.«

      Lucien drehte sich zu ihm um.

      Oscuro winkte locker ab. »Ich meine damit nur, dass die beiden Mädchen die Einzigen sind, die uns töten können. Das wäre eine Erlösung, oder? Bist du es nicht auch langsam leid, unsterblich umherzuwandern? Wie lange dauert diese Mission jetzt schon an? Für meinen Geschmack zu lange.« Er blickte nachdenklich empor, als würde er für einen kurzen Moment an etwas Schmerzhaftes, Unaussprechliches denken, und schloss die Augen. »Stattdessen rettest du ihr das Leben? Wie vernünftig!«

      »Ich mache so lange weiter, bis die Mission geglückt ist. Und ich weiß, du wirst mir helfen. Weil dir keine andere Wahl bleibt.« Lucien ballte die Fäuste. »Ich weiß nicht, warum du dich so aufführst, aber du brauchst mich. Wir können sie nur gemeinsam erwecken. Denk an die Worte unserer Königin.«

      »Königin«, fuhr Oscuro ihn in verächtlichem Ton an. »Sie ist eine größenwahnsinnige Wissenschaftlerin, die Engel erschafft und Experimente durchführt. Großer Unterschied.«

      »Mag sein, aber sie ist nun mal auch unsere Königin und wir müssen ihr gehorchen! Außerdem ist es eine wichtige Aufgabe.«, erwiderte Lucien kurz angebunden.

      Durch Ciels und Heavens Verwandlung konnten die Leben von zahlreichen Engeln und Menschen gerettet werden. So hatte die Königin es ihnen gesagt. Ciel würde zum Engel des Lichts werden. Heaven zum Engel der Finsternis. Schon einzeln trugen sie unheimlich starke Mächte in sich, doch sobald beide erwachen würden, wäre ihre Kraft grenzenlos. Wenn Lucien und Oscuro beide erweckt hätten, könnten sie Gott spielen, aber das war nicht Sinn dieser Mission. Ciels und Heavens Mächte mussten zur Reinigung der Menschheit eingesetzt