Ciel starrte Oscuro entsetzt an. »Was hast du getan?«
Wie hatte er einen Kerl, der doppelt so viel wog wie er, mal eben so durch eine Glasscheibe befördern können, als wäre er so leicht wie eine Feder?
Der Dünne starrte seinen Kumpel entgeistert an, dann wirbelte er herum. Doch noch bevor er fliehen oder um Hilfe rufen konnte, sprang Oscuro auf seinen Rücken. Der Kerl verlor das Gleichgewicht und stürzte mit dem Gesicht voran auf die harten Pflastersteine. Der Junge stand auf seinem Rücken und drückte ihm seinen Fuß ins Kreuz, sodass er am Boden wie festgeklebt war.
»Denkst du ernsthaft, dass ich euch einfach so davonlaufen lasse? Nach allem, was ihr dem Mädchen angetan habt?« Oscuro grinste, doch in seinen Augen funkelte Wut.
»Runter von mir«, ächzte der Kerl.
Doch da packte Oscuro ihn an seinem schwarzen Haar und donnerte sein Gesicht auf den Boden. Blut spritzte auf die Pflastersteine, auf Oscuros Hand und seine Kleidung. Als der Mann nur noch ein leises Grunzen von sich gab, ließ Oscuro von ihm ab, packte ihn am Nackenausschnitt seiner Jacke und warf ihn wie eine leblose Puppe vor Ciels Füße.
Sie starrte Oscuro entsetzt an, unfähig zu sprechen.
Er packte den Kerl am Haar und riss seinen Kopf hoch, damit er ihr in die Augen sah. Das Gesicht des Mannes war blutüberströmt, die Lippen aufgeplatzt, seine Augen rot und blau angeschwollen. Zwei Zähne fehlten ihm.
»Und jetzt entschuldige dich bei ihr!«, zischte Oscuro.
Der Mann keuchte, hustete und murmelte undeutlich eine Entschuldigung, ehe Oscuro ihm noch einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf verpasste, der dafür sorgte, dass der Mann bewusstlos vor Ciels Füße sank. Ängstlich starrte sie an, weil sie glaubte, er sei tot, doch da sah sie, wie er schwach atmete.
Oscuro erhob sich und starrte zu dem Kerl, den er durch die Scheibe geworfen hatte. »Jetzt bist du dran.«
Ciel starrte Oscuro entsetzt hinterher, während er über die Scherben lief und sich vor dem keuchenden dicken Mann aufbaute. Dann bückte Oscuro sich zu ihm hinunter und zog sich eine Zigarette und ein Feuerzeug aus seiner Brusttasche. Er zündete die Zigarette an, nahm einen Zug und musterte den Kerl gelangweilt. »Na, willst du es etwa noch mal wagen, eine Frau zu schlagen?«
Der Mann keuchte und hob schwach die Hand, um Oscuro zu packen, doch der stellte seinen Fuß auf das Handgelenk des Mannes, drückte es auf den Boden und verlagerte sein gesamtes Gewicht darauf, bis sein Opfer aufschrie und das ekelhafte Knacken von brechenden Knochen zu hören war.
»Hör auf!« Ciel gelang es endlich, sich aus ihrer Schockstarre zu befreien. Sie stürmte auf Oscuro zu und griff nach seiner Hand.
Er starrte sie an und lächelte ein Lächeln, das viel zu lieb für seinen hasserfüllten Blick aussah.
»Komm schon, Ciel, die haben es verdient! Du hättest tot sein können! Ich erteile ihnen bloß eine Lektion.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will hier weg. Bitte!«
Oscuro stöhnte genervt auf und nahm noch einen tiefen Zug von der Zigarette. Dann schnippte er dem winselnden, halb bewusstlosen Kerl zu seinen Füßen die Asche ins Gesicht, ehe er ihm auch noch die glühende Zigarette ins Gesicht warf. »Meinetwegen. Es wurde eh gerade langweilig.«
Plötzlich waren in der Ferne Sirenengeheul und aufgeregte Stimmen zu hören. Selbst der Barmann, der aus seiner Schockstarre erwachte und die ganze Zeit nur zugesehen hatte, kam hinter dem Tresen hervor, die Fäuste geballt. »Ihr könnt euch so oft und gerne prügeln, wie ihr wollt, aber ihr macht meinen Laden nicht kaputt! Die Glasscheibe bezahlt ihr!«
Ciel geriet in Panik. Was würde geschehen, wenn die Polizei kam?
Doch ehe sie begriff, wie ihr geschah, zog Oscuro sie hinter sich her. Sie stolperte und konnte sich nicht gegen ihn wehren. Sein Griff war zu fest. »Oscuro, warte«, versuchte sie zu protestieren, doch er reagierte nicht, und ließ sie auch nicht los. Er hielt sie wie in einem Schraubstock gefangen, und zwang sie, ihm zu folgen.
Toivo bellte und rannte ihnen nach.
»War das wirklich nötig? Ich meine, willst du ihnen nicht helfen?«, flüsterte Ciel. Sie starrte auf seine blasse Hand, die ihre umfasste. Sie fühlte sich ganz warm an, als würde eine Flamme in seinem Innern brennen. Eigentlich war es genauso wie bei Lucien, doch Oscuros Wärme war … anders, kälter, weniger intensiv.
»Nicht wirklich«, antwortete er gut gelaunt. »Hey, jetzt sieh mich nicht so an! Irgendjemand wird sich schon erbarmen und ihnen helfen. Aber glaub mir, die werden nie wieder ein Mädchen verletzen!«
Nach einer Weile verlangsamte er seine Schritte und führte Ciel durch eine weitere kleine Gasse, dann liefen sie wortlos durch den Park, bis sie schließlich dem Strand näher kamen.
Ciel konnte noch immer nicht begreifen, was da geschehen war, also war zu schweigen das Beste, was sie tun konnte. Doch gleichzeitig lagen ihr so viele Fragen auf der Zunge. Sie hörte in der Ferne Meeresrauschen, und ihr wehte eine salzige Brise durch die Haare. Möwen flogen am Himmel und kreischten. Ciel kannte diese Stelle nicht. Sie war hier noch nie gewesen, obwohl sie oft am Strand spazieren gegangen war.
»Ich habe nach dir gesucht«, gestand Oscuro nach langem Schweigen und sah sie an. »Nachdem wir uns begegnet waren, bist du mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich musste dich unbedingt wiedersehen. Ich habe überall nach dir gesucht, habe Leute nach dir ausgefragt, doch niemand konnte mir sagen, wo du wohnst. Und dann habe ich dich und Toivo herumirren sehen. Du sahst so wahnsinnig traurig und verzweifelt aus. Da bin ich dir heimlich gefolgt und sah, wie diese Typen auf dich losgegangen sind. Diese verdammten Dreckschweine. Ich hätte sie töten sollen für das, was sie dir angetan haben.« Er drückte ihre Hand, und Ciel spürte deutlich, wie Zorn seinen Körper durchflutete.
»Bitte sag so etwas nicht!« Sie schüttelte entsetzt den Kopf. »Ich wäre da schon irgendwie heil rausgekommen.«
Oscuro warf den Kopf in den Nacken und lachte. Er lachte eine ganze Weile. Ein nervöses, schepperndes Lachen.
»Was ist? Glaubst du mir nicht?
Oscuro sah sie grinsend an, doch seine eisblauen Augen funkelten nicht so intensiv wie sonst. Er sah tatsächlich etwas nervös aus. »Klar, habe ich gesehen.«
Sie blinzelte. Entweder nahm er sie nicht ernst oder er fürchtete sich vor ihr, weil er gesehen hatte, was sie getan hatte. Sie blickte auf ihre Hand. Wie war sie nur dazu fähig, andere zu verletzen, wenn sie wütend war?
Er hatte sich wieder von ihr abgewandt und sagte plötzlich etwas, das Ciel zusammenzucken ließ. »Menschen sterben früher oder später doch sowieso, Ciel. Leider erwischt es fast immer nur die guten Menschen, während die bösen sich einen ablachen und länger am Leben bleiben, als sie sollten. Menschen sind Abschaum!«
Ciel riss sich von ihm los und stellte sich ihm in den Weg.
Er blinzelte sie überrascht an.
»Warum sagst du das?«
»Ich verstehe, dass du das nicht so siehst. Du bist ein so reines Geschöpf. Viel zu gut für diese grausame Welt!«, sagte er leise und strich ihr über die blutende Lippe.
Sie zuckte zusammen.
»Du hast dich von anderen immer nur herumkommandieren und -schubsen lassen. Nie hast du dich gewehrt, hast allen Schmerz über dich ergehen lassen und bist trotzdem nicht daran zerbrochen. Ich wünschte, ich hätte deine Stärke!«
Ciel starrte ihn ungläubig an. Das sagte ausgerechnet er, der die beiden Kerle gerade verprügelt hatte?
»Und jetzt bist du ganz allein.«
»Mein Chef«,