Ich erinnere mich an einen Garten, in dem eine durch einen Baum»pfleger« völlig verunstaltete Zeder stand. Fast alle Starkäste waren gekappt worden. Als ich die Gartenbesitzerin fragte, warum der Baum so stark beschnitten worden sei, antwortete sie, dass der Baum einer der Gründe gewesen sei, warum sie das Grundstück gekauft hätten. Er sei ja aber noch nie geschnitten worden, deshalb hätten sie sich und dem Baum diese teure Baumpflege geleistet. Und nun musste ich sie darüber informieren, dass der Baum durch die vermeintliche Pflege irreversibel geschädigt worden war, keine schöne Aufgabe!
In unserer Haltung zu Pflanzen und ihrer Pflege scheinen wir also zwischen zwei Extremen zu schwanken: Einmal behandeln wir Pflanzen wie unsere Hausgenossen, wir sorgen für sie wie für ein Haustier. Dann wieder nehmen wir Pflanzen als eine wachsende Masse wahr, die in ihre Schranken gewiesen werden muss, damit sie so wächst, wie wir uns das wünschen. Wir gehen mit den Pflanzen um, als sei ihr Wachstum unendlich, ja vielleicht sogar bedrohlich. Wenn wir Pflanzen so als einen wachsenden Baustoff wahrnehmen, dann gerät aus dem Blick, dass die Pflanzen, die wir schneiden, lebendige Individuen sind, deren Gesundheit wir durch Verletzungen gefährden können.
Jede Pflanze ist ein Lebewesen mit einer eigenen Schönheit. Um diese zu pflegen, das heißt sie zu erhalten und zu entwickeln, ist in erster Linie nicht gutes Werkzeug, sondern sind Verständnis und Einfühlungsvermögen gefragt. Es geht darum, zu verstehen, wo und wie Pflanzen wachsen und wie sie sich entwickeln, wie ihre individuelle Gestalt entsteht. Weiterhin geht es darum, zu verstehen, wie Pflanzen auf Verletzungen reagieren, welche Gefahren für die Pflanzengesundheit mit einer Verletzung verbunden sind und wie Pflanzenwunden heilen.
Es ist aber nicht nur wichtig, die Pflanzen zu verstehen, sondern auch unsere eigenen Bedürfnisse zu kennen. Soll ein Apfelbaum besonders große und süße Früchte tragen, soll ein Zierstrauch dekorativ aussehen und reich blühen oder soll ein Gebüsch entstehen, in dem Vögel sicher brüten können? Die Funktion, die eine Pflanzung erfüllen soll, bestimmt in großem Maße die nötigen Pflegemaßnahmen. Was für die eine Zielsetzung eine richtige Pflegemaßnahme darstellt, kann für eine andere Funktion genau falsch sein: Wenn Blütensträucher einen lockeren und luftigen Aufbau haben, sehen sie dekorativ aus, können aber kaum als Nistgehölz für Vögel dienen. Beerensträucher in einer dichten Vogelschutzhecke tragen das eine oder andere Vogelnest, aber nur wenige und saure Früchte.
Ich möchte Sie einladen, die Pflanzen in Ihrem Garten neu und neugierig zu betrachten. Wir werden verschiedene Perspektiven einnehmen, den distanzierten Blick der Naturwissenschaft, den einfühlsamen Blick des Pflanzenliebhabers, aber auch die kreative Herangehensweise der Gestaltenden. Es geht darum, unseren Umgang mit den Pflanzen nicht nach überkommenen Regeln, seien es die Regeln unseres Nachbarn, unseres Großvaters oder eines Lehrbuches, auszurichten, sondern nach einem Verständnis für die Bedürfnisse aller, die in unserem Garten leben dürfen: wir, die Nutzer des Gartens, die Pflanzen, die uns erfreuen, und die Tiere, die wir in unserem Garten als Mitbewohner willkommen heißen.
Jede Pflanze hat ihre individuelle Gestalt, ein sanfter Schnitt fördert ihre Schönheit. Die Kornelkirsche ist ein Großstrauch, der im Alter zu einem kleinen Baum mit kurzem Stamm und kugeliger Krone heranwächst. Im zeitigen Frühjahr erfreut sie uns und die Bienen mit ihren leuchtenden, gelben Blüten.
Kleine Streicheleinheiten für Pflanzen
Mechanische Reize können im Gartenbau als Alternative zu Stauchungsmitteln eingesetzt werden. Im Gewächshaus wie im Haus tendieren Pflanzen dazu, lange und instabile Triebe zu bilden. Sobald Zimmerpflanzen im Sommer nach draußen gestellt werden, wachsen sie schöner und kompakter und leiden auch weniger an Schädlingen. Neben dem erhöhten Lichtangebot sorgen offensichtlich auch die mechanischen Reize durch Wind und Wetter dafür, dass das Längenwachstum der Zellen gebremst wird, dass dickere, stabilere Triebe und kräftigere Blätter gebildet werden.
Inzwischen wird dieser Effekt auch von einigen Zierpflanzengärtnereien eingesetzt, die »Streichelmaschinen« über ihre Pflanzenbestände fahren lassen und so ein kompaktes Wachstum der Pflanzen erreichen.
Erhöhte Konzentrationen von Pflanzenhormonen, die das Streckungswachstum der Zellen hemmen, konnten in den behandelten Pflanzen nachgewiesen werden.
Pflanzen von Grund auf verstehen
Die Pflanzen in unserem Garten: Sie wachsen und verändern sich im Jahreslauf, aber sie sind unbeweglich wie ein lebloses Material, auch Reaktionen auf Reize können wir an ihnen nicht wahrnehmen. Aber ist das, was wir wahrnehmen, auch die Wirklichkeit?
Bis zum achten Lebensmonat etwa existiert für kleine Menschen nur das, was sie unmittelbar sehen können. Erst danach lernen sie, dass ein Mensch, der aus der Tür gegangen ist, wiederkommen wird, dass ein Bauklotz, der unter einem Tuch liegt, trotzdem noch da ist. Im Laufe unseres Lebens lernen wir, dass das, was wir wahrnehmen, nur ein winziger Teil der Wirklichkeit ist, und dass viele Sinneseindrücke uns auch täuschen. Dennoch werden wir immer wieder von unseren Wahrnehmungen verführt, das, was wir sehen, für die Wirklichkeit zu halten – oder zumindest für den wichtigsten Teil der Wirklichkeit.
Wenn wir Pflanzen danach beurteilen, was wir sehen, dann werden wir einigen Täuschungen aufsitzen. Viele Pflanzen in so manchem Garten haben unter diesen »Fehlwahrnehmungen« zu leiden. Drei Beispiele sollen dies erläutern:
Pflanzen wurden bei einer Versandgärtnerei bestellt. Es werden Töpfe geliefert, in denen nur Erde zu sehen ist, keine Blätter. Also wird davon ausgegangen, dass auch keine Pflanzen geliefert wurden. – Irrtum, auch Töpfe ohne Blätter und Blüten können gesunde Pflanzen enthalten. Wenn wir die Ballen aus den »leeren Töpfen« einpflanzen, erscheinen nach einiger Zeit die »bestellten« Blätter und Blüten (siehe dazu Seite 20).
Bäume auf einer Baustelle sollen geschützt werden. Also wird der Stamm mit einer Manschette versehen und einzelne Äste, die über die Baustraße hängen, werden hochgebunden. Da alle sichtbaren Teile des Baumes geschützt wurden, wird davon ausgegangen, dass der Baum nun sicher ist. – Irrtum, ein so geschützter Baum wird auf einer größeren Baustelle wahrscheinlich schwer geschädigt. Viele nur oberirisch geschützte Bäume beginnen nach den Bauarbeiten »rückwärts zu wachsen«, verlieren immer mehr Äste, werden krank und gehen schließlich ein (siehe dazu Seite 22).
Ein Baum wird stark zurückgeschnitten, auch Äste mit einem Durchmesser von mehr als 5 oder gar 10 Zentimeter werden entfernt. Er treibt daraufhin stark aus und bildet besonders große Blätter. Es sieht so aus, als hätten wir den Baum zu besonders gesundem Wachstum angeregt. – Irrtum, hier versucht ein Lebewesen in einer Notreaktion sein Leben zu retten. An den Schnittstellen bilden sich große Faulstellen, die mächtigen Austriebe brechen nach einigen Jahren herunter, der Baum wird krank und auch er fängt an, »rückwärts zu wachsen«(siehe dazu Seite 85).
Um Pflanzen achtsam pflegen zu können, ist es notwendig, mehr von den Pflanzen zu kennen und zu wissen, als das, was wir sehen.
Die Gestalt der Pflanzen
Schauen Sie einmal, wie sich die Gestalten der verschiedenen Pflanzenarten unterscheiden. Selbst im Winter, wenn die Blätter fehlen, die ja die Bestimmung einer Pflanzenart schnell möglich machen, können wir Gehölzarten oft an ihrer Gestalt erkennen. Da sind