Achtsam sein
Dieses Buch ist aus der Praxis entstanden. Eigentlich geht es ja bei den Gartenberatungen, die einen Großteil meiner beruflichen Tätigkeit ausmachen, um die Gestaltung des Gartens und um seine naturnahe Bepflanzung. Bei den meisten Terminen sind aber die Pflege der Pflanzen und insbesondere der Pflanzenschnitt nach kurzer Zeit Hauptthemen des Beratungsgespräches. Vielen erscheint der Pflanzenschnitt als eine hochkomplizierte Geheimwissenschaft, die nur noch alte Obstbauern und eingeweihte Gärtner beherrschen. Meine Kundinnen und Kunden sind dann überrascht und erleichtert, wenn sie erfahren, dass die Grundprinzipien des Pflanzenschnitts auf einfach nachvollziehbaren, biologischen Zusammenhängen beruhen und im Grunde leicht zu erlernen sind.
So wird dann nach kurzer Zeit klar, warum der Apfelbaum, der doch klein bleiben sollte, stark wächst und keine Früchte trägt (siehe Seite 92), wie die Kulturrebe daran gehindert werden kann, ein undurchdringliches Dickicht zu bilden (siehe Seite 99), und warum die hochgelobten alten Rosensorten nicht blühen wollen (siehe Seite 114).
Viele Naturgärtner möchten außerdem die Pflanzen am liebsten ohne Schnitt frei wachsen lassen. Sie möchten der Natur ihr Recht, zumindest im eigenen Garten, zurückgeben. Bei meinen Beratungsgesprächen weise ich besonders darauf hin, dass für die Anlage eines solchen Gartens die richtige Pflanzenauswahl unabdingbar ist. Denn die Voraussetzung ist ja, dass die Ausdehnung, also die Höhe und Breite, die die Pflanzen aufgrund ihrer genetischen Anlage erreichen, zu den Platzverhältnissen vor Ort passt. Dann kann ein Garten Wirklichkeit werden, in dem die Menschen Mitbewohner, aber – abgesehen von der Initialzündung der Anlage – nur noch eingeschränkt Mitgestalter sind.
Andererseits ist es mir auch wichtig aufzuzeigen, dass hierzulande gerade solche Lebensräume am artenreichsten sind, in denen ein moderates Maß an Dynamik herrscht, in denen immer wieder neue Entwicklungen durch eine teilweise Zerstörung von Lebensraumstrukturen ermöglicht werden. Diese Beobachtung der Landschaftsökologen passt nicht mit einem Naturbild zusammen, das in der Natur eine friedvolle ausgeglichene Harmonie sucht. Aber es ist tatsächlich so, dass viele Arten an (scheinbare) Katastrophen, wie sie Windbrüche, Überschwemmungen und Waldbrände oder auch eine Herde großer Pflanzenfresser hervorrufen, angepasst sind. (Deshalb benehmen sich Naturschützer manchmal wie eine Herde Auerochsen …)
Achtsam im Garten mit den Mitbewohnern, also mit Pflanzen und Tieren, umzugehen, hat also drei Aspekte: Als Erstes bedeutet es, den Garten so zu planen, dass nur ein Mindestmaß an Pflege- und Schnittmaßnahmen nötig ist. Als Zweites kann umso schonender geschnitten werden, je besser wir die Pflanzen verstehen und je mehr wir über Wachstumsregulation und Gestaltbildung, aber auch über Wundheilung wissen. Dann können wir so schneiden, dass der schädigende Einfluss des Schnitts so gering wie möglich bleibt und andererseits das Ziel auch erreicht wird (und nicht etwa das Gegenteil eintritt). Zuletzt ist es auch wichtig zu erkennen, dass auch Pflegemaßnahmen, die erst einmal radikal erscheinen, zu einer Verbesserung der Lebensraumqualität für Pflanzen, Tiere und Menschen beitragen können.
Denn das ist das Ziel des naturnahen Gärtnerns: Lebensraumqualität für alle Bewohner des Gartens, also auch für seine Pflanzen und Tiere. Lebensraumqualität ist das Ziel der guten Planung einer frei wachsenden Naturhecke, sodass diese über Jahre nicht oder kaum geschnitten werden muss und die Tiere darin ohne Beunruhigung leben (und wir sie beobachten) können. Lebensraumqualität ist aber auch das Ziel, wenn wir die Hecke nach 10, 15 oder 20 Jahren »knicken«, was erst einmal sehr zerstörerisch aussieht und doch für alle Bewohner des Gartens einen Raum erhält, in dem sie ihr Leben in vollen Zügen genießen können (siehe Seite 172).
Zwei Symbole sollen deshalb in diesem Buch auf besondere Aspekte des achtsamen Umgangs mit Schere und Säge hinweisen:
Der Schmetterling findet sich dort, wo beschrieben wird, wie durch wohlüberlegte Planung Schnittmaßnahmen minimiert werden können.
Die Säge kennzeichnet Passagen, wo (vermeintlich) radikale Maßnahmen beschrieben werden, die doch zum Ziel haben, die Lebensraumqualität des Gartens zu verbessern.
Bei allen anderen Pflegemaßnahmen, die vorgestellt werden, liegt das Hauptaugenmerk darauf, so pflanzenschonend wie möglich zu schneiden und dabei auch Rücksicht auf die Tierwelt zu nehmen.
Pflanzen im Garten: lebende Baustoffe oder Mitbewohner?
Wo Pflanzen wachsen, da leben wir gerne. Wir freuen uns über die ersten Knospen, die sich im Frühjahr entfalten, über die Blüten, die folgen, über die Früchte im Herbst. Unterschwellig wissen wir auch: Nur weil Pflanzen wachsen, können wir leben. Der Sauerstoff, den wir atmen, wird von Pflanzen produziert. Ohne die Fotosynthese der Pflanzen enthielte die Atmosphäre der Erde keinen Sauerstoff. Unser Leben ist eng mit dem der Pflanzen um uns herum verbunden, ja wir sind sogar in unserer ganzen Existenz von ihnen abhängig.
Als Gartenplanerin kann ich Gärtner und ihre Gärten meist nur eine kurze Zeit begleiten, irgendwann heißt es Abschied nehmen, denn neue Projekte warten. Wenn ich dann nach einiger Zeit zu einem älteren Projekt zurückkehre, ist es immer wieder spannend, wie sich der Garten entwickelt hat. Dabei beobachte ich oft: Gärten sind umso schöner, je mehr die Menschen, die in ihnen leben und arbeiten, sich mit den Pflanzen emotional verbinden, einfacher gesagt: je mehr sie ihre Pflanzen lieben.
Gute Gärtnerinnen und Gärtner kennen ihre Pflanzen, manchmal jede einzelne individuell. Sie erkennen, wie gut oder schlecht es ihren Schützlingen geht, sorgen sich um ihre Pflanzen und sorgen für sie. Es ist für sie eine Freude, wenn die jungen Pflänzchen in den Saatschalen wachsen, und sie achten darauf, dass sie gedeihen, so wie sie auch Tierkinder versorgen würden.
Wenn es aber an die regelmäßigen Schnittaktionen im Garten geht, dann könnte man daran zweifeln, ob die Pflanzen im Garten auch wirklich als Lebewesen wahrgenommen werden. Da wird gesägt und geschnitten, was das Zeug hält. Gärtner, die wegen einer eingegangenen Topfpflanze traurig sind, sägen ohne Bedenken ihren Bäumen große Äste ab. Aber vielleicht bleibt da doch ein leiser Zweifel? Eine große Schnittwunde mit Wundverschlussbalsam zu bestreichen, gibt dem Gärtner zumindest ein gutes Gefühl. Ob es auch dem Baum nützt, ist erst mal nicht klar.
Wilde Gärten
Wahrscheinlich fingen die Menschen schon lange vor der Erfindung des Ackerbaus an, Pflanzen zu pflegen und zu nutzen. Wie solche »Wilden Gärten« entstanden, können wir bei den Ureinwohnern Australiens erfahren. Zum Beispiel wurden Grasbäume von den Aborigines als Nahrung und zur Werkzeugherstellung genutzt – aus dem Harz wurde ein Klebstoff gewonnen, der Stein-klingen an Holzträgern befestigte. Die Ureinwohner förderten begehrte Pflanzen unter anderem durch das Legen von Buschfeuern. Nutzpflanzenstandorte wurden in den »Songlines« weitergegeben. Die Frauen der wandernden Gruppe vermehrten auch bewusst bestimmte begehrte Pflanzen, indem sie Samen auslegten oder durch Stecklinge an besonders geeigneten und vielleicht sogar dafür vorbereiteten Stellen einpflanzten. Dabei pflegten sie diese vielleicht ähnlich, wie sie die Kinder der Gruppe pflegten. Die rasche Ausbreitung der Haselnuss nach der letzten Eiszeit bei uns in Mitteleuropa könnte in ähnlicher Weise von mittelsteinzeitlichen Jägern und Sammlern gefördert worden sein.
Es gibt Gärtnerinnen und Gärtner, die streicheln ihre Pflanzen, und es gibt wissenschaftliche Untersuchungen,