Als der Tiger die Augen wieder öffnete, lag er auf einem Bett. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was geschehen war. Er hatte sich freiwillig seinem Meister hingegeben. Schwer schluckte er diese Erkenntnis hinunter. Aber das erklärte nicht, wie er in dieses Bett gekommen war. Dunkel erinnerte er sich daran, in den Armen des Jungen eingeschlafen zu sein. Das wiederum ließ nur einen logischen Schluss zu: Sein Meister hatte ihn hier abgelegt. Aber das ergab nicht wirklich einen Sinn. Normalweise nahmen sich die Menschen, was sie wollten, und ließen einen dann wie ein benutztes Handtuch auf dem Boden liegen. Nicht dieser Junge. Dieser Mensch war anders. Zwar hatte sein Meister das gesagt, aber das Resultat machte ihn sprachlos. Sein Herr hatte sich nicht nur um sein Wohl gekümmert und ihm einen atemberaubenden Höhepunkt geschenkt, nein, er hatte ihn in seinen Armen einschlafen lassen, ihn ins Bett gebracht und auch noch zugedeckt.
Seine Gedanken begannen zu schwirren. Das war sehr ungewöhnlich für einen Menschen und er bekam leichte Kopfschmerzen beim Gedanken an diese verkehrte Welt. Schnell schüttelte er den Kopf und sah sich nach dem Samariter um. Das Licht im Raum war gedämpft und er konnte seinen Herrn nicht auf Anhieb entdecken.
Scheu fragte der Tiger: »Meister?«
»Ich bin hier, Kiyoshi«, kam es sogleich vom Schreibtisch her. Dort saß der Junge vornübergebeugt und schrieb irgendetwas.
Kiyoshi setzte sich auf, wobei ihm die Decke herab rutschte. Ohne nachzudenken, fragte er: »Wie lange habe ich geschlafen, Meister?«.
Er biss sich auf die Zunge. Sowas fragte man seinen Herrn nicht. Für dieses Fehlverhalten war eine saftige Strafe angemessen.
Der Junge hingegen sah nicht mal auf und antwortete freundlich: »Du bist in meinen Armen eingeschlafen.« Ein wohliger Seufzer erklang. »Das fand ich so süß, dass ich bestimmt eine halbe Stunde, einfach nur dasaß und dir beim Schlafen zugesehen habe. Und dann habe ich dich hochgehoben und ins Bett gelegt. Das war gar nicht so einfach, muss ich sagen. Du hast dich im Schlaf an mich geklammert und wolltest einfach nicht loslassen. Also habe ich gewartet. Hm, ja ich glaube so eine Viertelstunde dürfte das schon gedauert haben. Nachdem du mich freigegeben hast, habe ich dich zugedeckt und bin an den Schreibtisch. Das war…, hm… vor gut einer halben Stunde. Alles in allem, glaube ich, hast du so anderthalb Stunden geschlafen«, beendete der Meister seine Erklärung, bevor er sich wieder dem Schriftstück vor sich widmete. Stille legte sich über den Raum, nur das Kratzen des Stiftes auf Papier war zu hören.
Der Meister hatte ihm beim Schlafen zugesehen und fand das… süß! Irritiert schob Kiyoshi den Gedanken beiseite und dachte über seine Situation nach. Wenn ich es nicht besser wüsste, klingt das für mich nach einer heftigen Schwärmerei. Hm, das könnte mir sehr von Vorteil sein, um zu entkommen. Ein unachtsamer, verliebter Meister ist besser als ein Sadist, der immer ein Auge offen hat.
Ein dämonisches Grinsen schlich sich auf das Gesicht des Tigers. Ich kann ihm vorspielen, dass ich seine Gefühle erwidere, mich dann umsehen und in einem Moment der Unachtsamkeit, war es das für den Meister und ich bin frei. Ja, das klingt nach einem Plan. Hm, wo fangen wir an?
»Meister, wollt ihr Euch nicht zu mir gesellen?«, fragte Kiyoshi zuckersüß und räkelte sich so, dass er völlig entblößt wurde.
Der Junge sah auf und schaute ihm bei seinen Bewegungen zu. Doch statt dass sich Begierde und Lust in den blauen Kristallen widerspiegelten, wurde sein Blick zornig.
»Nein!« sagte er abweisend. Der Mensch stand auf und ordnete die Papiere vor ihm. Dann drehte er sich um und ging zur Tür. Wie vom Donner gerührt, verharrte Kiyoshi in seiner letzten Position und schaute sprachlos zu seinem Meister. In der Türöffnung hielt der Knabe an. Er drehte sich nicht um, aber er sprach mit bemüht ruhiger Stimme: »Hör bitte auf, mir was vorzuspielen. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass du mich verarschen willst.«
Der Junge seufzte laut und schüttelte den Kopf, dann fuhr er mit resignierter Stimme fort: »Ich weiß, dass es dir nicht leichtfällt, mir zu vertrauen, aber ich will weder dir noch den Ottern was Böses. Was ich zu Ursay gesagt habe, genauso wie mein Verhalten dort, war ein Trick, um die Otter zu retten.«
Er schaute über die Schulter zum Tiger und in den blauen Kristallen lag ein trauriger Ausdruck, als er wieder zu sprechen begann: »Ich dachte, du hättest das durchschaut. Anscheinend lag ich falsch. Ursay hätte die beiden liebend gerne gefoltert und getötet. Wenn er nicht geglaubt hätte, dass ich sie töten werde, wäre er nie auf mein Angebot eingegangen.«
Ein Seufzen erklang und der Mensch verfiel in Schweigen. Nach einigen Sekunden fügte er hinzu: »Auf dem Tisch liegen ein paar Blätter mit Regeln, die hier ab sofort gelten. Lies sie und halte dich daran, Kiyoshi.« Anschließend ging er einfach und ließ den Sklaven irritiert zurück.
Entsetzt über diese Offenbarung blieb der Tiger noch lange sitzen, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. Er war sich nicht sicher, wie viel Wahrheit in den Worten seines Meisters steckte. Aber eines musste er sich eingestehen: Bis jetzt hatte sein Herr ihn gut behandelt. Besser, als er es sich in seinen Träumen ausgemalt hätte.
Langsam erhob und streckte er sich, um die Müdigkeit aus seinen Gliedern zu vertreiben. Anschießend schlurfte er mit böser Vorahnung zu dem Schreibtisch und begann zu lesen.
Ab sofort sind alle Sklave-Meister Regeln aufgehoben.
Es sei dir erlaubt, zu sagen, was du willst.
Es sei dir gestattet, eine Aufgabe abzulehnen.
Ausnahme von 1.-3: Wenn sich Besucher im Haus oder auf dem Grundstück aufhalten und sobald das Grundstück verlassen wird. In diesen Fällen muss ich auf die vollständige Einhaltung aller Sklave-Meister Regeln bestehen.
1. In der Zeit, in der die Sklave-Meister Regeln gelten, biete ich dir an, mein Primär zu sein. Bedenke jedoch die Konsequenzen dieser Position.
2. Es sei dir erlaubt, dich auf dem gesamten Grundstück frei zu bewegen, Ausnahme sind die bewohnten Schlafzimmer.
3. Die Schwarze Tür in der Eingangshalle ist absolut tabu.
4. Ich erwarte keinerlei sexuelle Gefälligkeiten.
5. Gewalt gegen andere Wesen ist untersagt.
6. Für die Ordnung und Sauberkeit in deinem Zimmer, bist DU selbst verantwortlich.
7. Alle in deinem Zimmer befindlichen Gegenstände sind dein Eigentum.
8. Sobald ich die Möglichkeit habe, werde ich dir die Freiheit geben.
Diese Regeln sind kein Scherz. Es wird keine Strafe geben, wenn du dich daran hältst.
Kiyoshi
Auf Erkundungstour
Mit offenem Maul stand Kiyoshi vor dem Schreibtisch. Das Wort geschockt beschrieb nicht mal annähernd seinen Geisteszustand. Er las die Regeln ein zweites Mal. Doch konnte sein Geist nicht alles auf einmal verarbeiten. Er konnte einfach nicht begreifen, was da stand. Nachdem er den Kopf geschüttelt hatte, las er die Regeln noch ein drittes Mal. Doch diesmal Zeile für Zeile.
Am Ende angelangt, war er immer noch so schlau wie zuvor. Das ergab keinen Sinn. Kein normaler Mensch würde einem Sklaven befehlen, sich nicht an die Sklave-Meister-Regel zu halten. Auch war es ihm, wie allen Wesen, eingeprügelt worden, wie er sich zu benehmen hatte, wie er zu reden hatte und so weiter. Ein Sklave war ein Gebrauchsgegenstand und wurde nicht einmal als Lebewesen angesehen. Das war die Realität.
Sollte sein Herr wirklich anders sein als der Rest dieser Rasse? Bisher hatte er ihn jedenfalls gut behandelt, mehr als gut. Bei diesem Menschen hatte er nicht das Gefühl, nur ein Gebrauchsgut zu sein. Der Knabe hatte sich ihm gegenüber sehr anständig verhalten und sogar mehrmals versucht,