Eine Woche später erschien der Hinweis, dass die Regel für das automatische Ausscheiden bis auf Weiteres aufgehoben sei. Es gab jedoch nichts »Weiteres« mehr zu diesem Thema.
Handelten die Kampfrichter aus reiner Zweckmäßigkeit heraus? Fournier war zu diesem Zeitpunkt führend in der Sprintwertung, und es hätte die Fans vor den Kopf gestoßen und für einen noch größeren Aufruhr gesorgt als der Fall Majerus, wenn ein weiterer Spitzenfahrer herausgeworfen worden wäre. Wenn die Grundlage für die Entscheidung darin bestand, sich bei der Öffentlichkeit und den Zeitungen anzubiedern, dann zahlte sie sich aus, denn Fournier wurde von diesem Zeitpunkt an hoch gehandelt und gab den Reportern eine Menge Stoff zum Schreiben. Zu Beginn des Rennens hatte er zugegeben, noch nie an einem richtigen Berg gefahren zu sein. »Die Berge? Das ist ein ganz anderes Paar Schuhe«, sagte er mit überdurchschnittlich viel Understatement und Stoizismus, »ich bin bisher nur die kleinen Höhenzüge von Wolber hochgefahren. Bergfahren ist prinzipiell eine Knochenmühle, und ich mag es nicht sehr.«
Es ist ein erheblicher Unterschied, ob man einen Hügel hochfährt oder einen Berg; und ein noch größerer Unterschied, ob man ihn nur hochfährt oder ob man ihn in einem Rennen hochjagt. Amédées Abneigung und seine dunklen Vorahnungen erwiesen sich als wohl begründet. Etappe 9 führte die Fahrer in die Pyrenäen und über die Cols de Porte, Aubisque, Soulor, Tourmalet und Aspin. Fournier litt und litt und litt und kämpfte sich verzweifelt über den 2115 m hohen Tourmalet, den höchsten Pass in den Pyrenäen. Er wurde zu einem jener gepeinigten Überlebenden, die die Journalisten zu bejubeln lieben: Er hatte nicht einfach nur Pech, sondern einen »Rosenkranz von Unglücksfällen«; er ruhte sich nicht in seinem Hotel aus, sondern »brach in seiner Klause zusammen«, wo er »mit abgehärmten Gesichtszügen, hohlen Wangen und wirrem Haar in verzweifeltem Unglück auf seinem Bett lag«.
Als die Tour aus den Bergen heraus und in die Weingegenden des Südens führte, aß Fournier zu viele Trauben und musste sich heftig übergeben. Etwas später baute er ein Rad aus und gab es Archambaud, als sein Teamführer ein Ersatzteil brauchte, aber das Ersatzrad, das er schließlich selbst bekam, rieb an der Sitzstrebe seines Fahrradrahmens. Auf der Suche nach einem Zuschauer, der ihm mit einigen Unterlegscheiben aushelfen konnte, um das Rad passgenau einzusetzen, verlor er noch mehr Zeit. Die letzten 60 km bis zum Ziel fuhr er ganz allein.
»Er fährt, fährt und fährt noch weiter. Er fährt und fährt zur Ziellinie, wo ihm mitgeteilt wird, dass er der Letzte in der Gesamtwertung ist. Und morgen schwingt er sich wieder auf sein Rad«, schrieb Perrier, Korrespondent von L'Auto, der Fournier unter der Überschrift »Der Märtyrer der Tour« fast eine ganze Seite widmete. Der Titel war jedoch falsch, denn Fournier war alles andere als ein Märtyrer, denn schließlich wurde ihm das Märtyrertum des frühzeitigen Ausscheidens erspart, was Perrier auch ganz genau wusste: »Wie recht Sie hatten, Messieurs les commissaires, die Regel auszusetzen, die das Ausscheiden des Letzten in der Gesamtwertung erzwingen solle. Sie hätten niemals das Herz, den armen, kleinen Médoche auszuschließen.«
Schließlich erkämpfte sich Fournier – oder Médoche, wie er genannt wurde – wieder etwas Zeit und stieg auf, während Armand Le Moal vom bretonischen Regionalteam auf den letzten Platz rutschte. Für Le Moal stellte das Bergfahren ebenfalls eine Premiere dar, aber er war ziemlich dreist und eingebildet und machte sich keine Sorgen über die kleinen Buckel, die er nie gesehen hatte. (»Die Alpen und die Pyrenäen, die kann ich mir schon gut vorstellen.«) Es stellte sich jedoch heraus, dass er sowohl beim Bergauf- als auch beim Bergabfahren fürchterlich schlecht war – bergauf schaffte er bestenfalls den 49. Platz von 50, und bergab war er ganz am Ende der Tabelle. Er war die definitive lanterne rouge von 1939.
Es mag überraschend sein, dass sich auch Träger des Gelben Trikots in den hinteren Rängen des Rennens abstrampeln und darum kämpfen müssen, nicht auszuscheiden, aber Fournier und Majerus waren nicht die einzigen beiden lanternes rouges, die Gelb getragen hatten. »Schon als Kind habe ich davon geträumt. Man schaut immer mit großen Augen auf den maillot jaune, und ehrlich gesagt, hätte ich nie geglaubt, dass ich ihn eines Tages tragen würde«, berichtete mir Jacky Durand, lanterne rouge 1999, der das Gelbe Trikot 1995 beim Auftaktrennen übernahm und dann auf zwei langen Etappen trug, »es ist ein anderes Gefühl als ein Sieg. Der Sieg ist der sehr intensive Augenblick, in dem man die Linie überquert. Ich habe [das Tragen des Gelben Trikots] sehr genossen. Es ist nicht dasselbe Gefühl wie die Arme im Triumph hochzureißen. Es ist weniger intensiv, aber es hält länger an.«
Auch Joseph Groussard (lanterne rouge 1965) und Jean-Pierre Genet (1967) trugen das Gelbe Trikot auf einer oder zwei Etappen, und unter den lanternes rouges gibt es eine Menge Etappensieger. Unter ihnen ist Gilbert Glaus (1984), der 1983 Sean Kelly auf den Champs-Élysées schlug und den großartigen Iren damit um einen Etappensieg zur Ergänzung seines Grünen Trikots brachte. Das Laternenkorps kann außerhalb der Tour de France sogar Siege verbuchen. Groussard siegte bei dem Rennen Mailand–San Remo, und Edwig Van Hooydonck (1993) war zweifacher Gewinner der Ronde van Vlaanderen (der Tour von Flandern). Weitere Beispiele sind ein Sieger beim Dwars door Vlaanderen (Rob Talen, 1994) und beim Bordeaux–Paris (wiederum Glaus), ein französischer Nationalmeister (Anatole Novak, 1964), ein Nationalmeister im Zeitfahren (der Kanadier Svein Tuft, der 2013 den Letzten machte), ein Sieger der Deutschland Tour (Guido de Santi, 1949) und mindestens zwei Gewinner von Olympiamedaillen (Claude Rouer, 1953, und Philippe Gaumont, 1997; beide gewannen Gold beim Zeitfahren der Herren, allerdings natürlich bei verschiedenen Olympischen Spielen).
Wenn Sie über die »echten« lanternes rouges hinausgehen – also diejenigen, die als Letzte in Paris ankamen – und auch diejenigen berücksichtigen, die eine oder zwei Etappen lang als Letzte in der Gesamtwertung fahren, werden Sie von Titeln förmlich überschwemmt. Hier finden sich Weltmeister (Mark Cavendish, Thor Hushovd), Träger der maglia rosa (abermals Cavendish sowie Danilo Di Luca), Gewinner des Rennens Paris–Roubaix (Magnus Bäckstedt) und viele weitere. Die Papierlaterne mag sich in der Pokalsammlung nicht gut ausnehmen, aber sie ist meistens nicht die einzige vorhandene Auszeichnung.
Im ASO-Hauptsitz in Issy-les-Moulineaux ging Pescheux ganz in einer Erörterung der notion du vrai grimpeur auf, der Idee des wahren Bergfahrers. So läuft das in Frankreich – wenn Sie über Radsport sprechen, landen Sie früher oder später bei der Philosophie.
»Bahamontes war der beste Bergfahrer, aber er hat niemals das Gepunktete Trikot getragen.18 Die Leute wussten es einfach, weil er der erste Mann war, der über die Cols kam«, erklärte Pescheux, heutzutage versuchen die Bergsieger, Punkte auf den Hügeln zu machen. So sollte es eigentlich nicht sein. Daher vergeben wir mehr Punkte für die großen Cols und doppelt so viele für Etappenziele auf Gipfeln.«
Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Heute ist die Bergwertung ... also gut, dieses Jahr war sie gut, aber sie gibt nicht immer den besten Bergfahrer an. Wenn Sie der beste Bergfahrer sind, dann beherrschen Sie die Bergetappen, dann sind Sie vorn. Die besten Bergfahrer der Tour 2013 waren Quintana, Contador und Froome.« Das war so offensichtlich, dass er ein anderes Rennen ansprach, um deutlich zu machen, was er sagen wollte: »Ich habe nichts gegen Nicolas Edet, der die Bergwertung bei der Vuelta a España