Anscheinend erwartete man uns bereits, denn das Gittertor öffnete sich wie von Geisterhand. Uniformierte empfingen uns mit Maschinenpistolen. Wir wurden in ein Gebäude geführt und verhört. Ich meldete ein dringendes Bedürfnis an, worauf mich ein Marinesoldat zur Toilette begleitete. Die Tür musste offen bleiben. Ich sah ihn gequält an, und immerhin ließ er die Waffe sinken. Warum man uns als Sicherheitsrisiko einstufte, erfuhren wir später. Die Christina Bischoff war Monate zuvor Häfen in Bulgarien, Rumänien und vor allem in der UdSSR angelaufen. Der Kalte Krieg befand sich in einer intensiven Phase, und es bestand der Verdacht, dass es sich bei uns um Agenten des Ostblocks handeln konnte.
Wer sonst war so verrückt, in den Mississippi zu springen?
In Handschellen band man uns zusammen und fuhr uns mit einem Boot zu einem Steg, an dem wir in ein Polizeiauto umstiegen. Das Tor des Staatsgefängnisses von Miami öffnete sich. Barfuß stand ich in dem Raum, in dem die Gefangenen registriert wurden; ein kühles Zimmer ohne Sitzgelegenheit. Ich trug die Jeans, die sich wie harte Röhren anfühlte, und ein T-Shirt, das weiß gewesen war. Mein Körper war von Insektenstichen übersät und von der Sonne verbrannt. Meine Augen waren verquollen, die Knöchel der Hände und die Ellenbogen blutig eingerissen und von den angeschwollenen Lippen hingen Hautfetzen. Meine blonden Haare erinnerten an Stroh. Meine Kopfhaut juckte fürchterlich. Meine Kniekehlen waren aufgescheuert. Jeder Schritt schmerzte.
Zwei Wachleute mit Pistolen am Gürtel befahlen uns, die Kleidung auszuziehen. Danach schob man uns durch ein Eisenschott in den nächsten Raum. Die Tür schloss sich hinter uns. Hier bekamen wir einen „Blaumann“ aus Jeansstoff. Mein Sträflingsanzug wies einen langen Riss auf der rechten Poseite auf. Unterwäsche gab es nicht. Der Anzug erschien mir im Gegensatz zu meinen Jeans wunderbar weich.
Ein Stahlschott wurde geöffnet. Auf der anderen Seite befanden sich die Zellen der Gefangenen. Links ein Gemeinschaftsraum, mit Tischen und Stühlen, die im Boden verschraubt waren. Eine Toilette und eine Dusche, beides offen, befanden sich in der Mitte. Rechts die Zellen. Knapp achtzig Leicht- und Schwerverbrecher waren hier untergebracht. Ich musste duschen. Die aufgerissene Haut brannte zwar etwas, doch das kalte Wasser empfand ich als Wohltat. Dass die anderen Gefangenen zusehen konnten, war mir egal. Auf dem Schiff waren wir Gemeinschaftswaschräume gewöhnt.
Ich war so müde. Gegen 20 Uhr brachte man uns in die Zelle, vier Kojen in einem Raum, an den Längsseiten in die Stahlwände geschweißt. Als Auflagen gab es dünne Matratzen. Weil die angrenzende Zelle identisch gebaut war, ließ sich nächtliches Schaukeln nicht vermeiden, sobald sich jemand auf dieser Konstruktion bewegte. Fühlte sich ein wenig an wie auf einem Schiff, doch das gefiel nicht jedem, wie die Flüche vermuten ließen.
Ich schlief tief und muss sagen, dass ich an diese Zeit diffuse Erinnerungen habe. Mir war im Schockzustand jedes Zeitgefühl verloren gegangen. Waren wir vielleicht sogar zwei Nächte lang in den Mangroven? Ich kann es nicht sagen. Nach unserem Aussehen müssen wir mehrere Tage im Busch zugebracht haben.
In meinen Träumen kämpfte ich noch lange um unseren Freund Peter. Die Träume begleiteten mich noch Jahrzehnte später. Immer wieder dieses Bild, wie er in der Tiefe verschwindet.
Im Gefängnis ließ man uns in Ruhe. Womöglich war das Gerücht, dass es sich bei uns um gefährliche Ostagenten handelte, bis in den Knast vorgedrungen. Wir wurden schnell in den Knastalltag eingeweiht. Klopapier zum Beispiel, ein kostbares Gut. Es wurde sehr zögerlich und in geringer Menge erst nach einer Vereinbarung vom „Herrscher“ über alle Sanitärartikel gereicht.
Die Soldaten der Küstenwache hatten uns freundlicherweise einige Schachteln Zigaretten überlassen. Die Kippen wurden uns sofort aus den Händen genommen, die kleinsten Reste Tabak herausgeschüttelt und sorgfältig aufgehoben. Wir sahen später, dass Häftlinge diese Reste in Zeitungspapier drehten und in Tüten rauchten. Gabel oder Messer gab es natürlich nicht; wir nutzten abgebrochene Plastiklöffel. Das Essen war nicht grade üppig, doch ich fühlte mich gut versorgt.
Einmal am Tag durften wir uns im Hof die Beine vertreten, zwischen den hohen Gefängnismauern. Ein Vertreter des deutschen Konsulats kam zu Besuch, der uns mitteilte, dass Peters Leichnam gefunden worden war. Wir identifizierten ihn anhand seiner persönlichen Dinge. Sehen durften wir ihn nicht. Der Mitarbeiter des Konsulats erklärte uns auch, dass gegen uns strafrechtlich nichts vorlag. Lediglich unsere Aufenthaltsgenehmigung, auf 21 Tage befristet, war abgelaufen. Wir hatten nichts verbrochen. Nächtliches Schwimmen im Mississippi ist nicht verboten, und das eigene Leben in Gefahr zu bringen, ebenfalls kein Verbrechen. Offenkundig ging es nur darum, auszuschließen, dass wir Ostblock-Spione waren.
Ich empfand kein Angstgefühl in diesen Tagen im Gefängnis von Miami. Mir war auf eine Art alles egal. Als ein grobschlächtiger Gefangener beim Hofgang mit der Hand eine schnelle Bewegung zur Kehle machte, um anzudeuten, dass er mir den Hals durchschneiden wollte, grinste ich ihn an. Er wandte sich dann ab.
Nach sieben Tagen öffnete sich das Tor zum Gemeinschaftsraum. „Bajoratis!“ „Froböse!“ Ein Raunen war zu hören, als wir den Raum verließen und in die Schleuse traten. Hier bekamen wir unser Zeug zurück und ich noch ein Hemd, Socken und Schuhe. Uns erwartete der Konsulatsangestellte mit einem Auto. Die Fahrt ging sofort in den Hafen. An der Pier lag die Bremen, ein Schiff des Norddeutschen Lloyd.
Der Stückgutfrachter lief sofort aus. Nach einigen Stunden wurden wir zum Kapitän gerufen. Uns wurde mitgeteilt, dass wir an Bord als Gefangene betrachtet wurden. Nach deutschem Recht galten wir als „Deserteure“. Uns wurde freigestellt, ob wir auf See arbeiten und Wachdienst leisten wollten; im Hafen würden wir im Deckhaus, welches als Krankenkammer eingerichtet war, unter Verschluss gehalten. Wir entschieden uns selbstverständlich für die Arbeit, gingen Wache und erwarben uns rasch die Achtung der Stammbesatzung. Heuer gab es keine, immerhin aber Zigaretten. Bier habe ich meistens abgelehnt, weil die Wachen mit Alkohol nicht vereinbar waren. Die Zwangspausen während der Hafenzeiten schadeten uns auch nicht. So konnten wir nicht wieder auf dumme Gedanken kommen.
Nach drei Wochen liefen wir in Hamburg ein. Beamte der Wasserschutzpolizei holten uns ab. Die erste Nacht verbrachten wir in der Hafenwache. Nach einem kurzen Verhör entließ man uns. Mein Stiefvater (mein leiblicher Vater war im Krieg im Jahr meiner Geburt auf einem U-Boot 1941 gefallen) holte uns mit seinem kleinen Fiat ab. Bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens durften wir nicht zur See fahren. In diesen sechs Wochen arbeiteten wir als Hilfsarbeiter auf dem Bau.
Bajo kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Ich wurde nicht einmal zum Prozess vorgeladen, weil ich noch minderjährig war. Wir mussten die Flugkosten unserer Ersatzleute bezahlen. Jeweils 3.500,- DM, damals ein Vermögen, das wir in Raten von monatlich 50,- DM abstotterten. Das nächste Schiff, auf das ich einstieg, war wieder ein „Tramper“, die Miranda. Mein weiteres Leben als Seemann „vor dem Mast“, wie es damals hieß, ging abenteuerlich weiter.
Mehrmals lief ich mit einem Schiff einen amerikanischen Hafen an, und jedes Mal wurde für mich ein Wachmann an der Gangway postiert. Wenn ich Hafenwache hatte und die Leinen kontrollierte, begleitete mich ein Bewaffneter in Uniform.
Das tragische Ereignis auf dem Mississippi vergrub ich in meinem Unterbewusstsein. Manchmal kommt es schmerzlich wieder an die Oberfläche. Ich frage mich dann: Haben wir wirklich „alles“ gemacht? Sind wir schuldig? Warum leben wir dann noch?
Fragen, die ich mir noch immer stelle und auf die ich keine Antworten finde.
Peter liegt auf einem Friedhof in New Orleans begraben. Einige Jahre später, während meines Nautikstudiums, besuchte mich sein Bruder. Er wollte wohl herausfinden, ob uns eine Mitschuld an Peters Tod traf. Wir redeten und redeten eine lange Nacht lang und tranken Whisky, bis die Flasche leer war. Ich sah und hörte nie wieder von ihm.
KAPITÄN DIETMAR FROBÖSE