„Mitkommen!“
Auf Handschellen verzichtete man, als man uns in einem Polizeiauto in den Hafen von New Orleans fuhr. Wie nur hatten uns die Cops so schnell finden können? Zurück an Bord der Christina Bischoff wurde das Rätsel gelöst. Peter hatte eine Karte seines Mädchens, auf das sie ihre Anschrift gekritzelt hatte, auf dem Tisch seiner Kammer vergessen.
Das Schiff war mit unserer Ankunft reisefertig, wir legten ab. Für unseren unangemeldeten Ausflug mussten wir uns noch rechtfertigen, das war klar. Zu jener Zeit galt in Deutschland noch der Strafbestand der Desertion; wir hatten mit einem Prozess, womöglich auch mit einer harten Strafe zu rechnen. In Peters Kammer berieten wir, was nun zu tun war.
„Ich fahre nicht nach Deutschland zurück“, sagte Peter. „Ich bleibe hier in Amerika.“
Sein Plan war simpel: Solange wir noch auf dem Fluss waren, sollten wir in den Mississippi springen. Nach Sonnenuntergang, aber noch bevor das Schiff das Delta erreichte, wollten wir uns an einer Leine, die mit einem leeren Fass verbunden war, über das Heck ins Wasser gleiten lassen. Einer von uns würde die auf dem Schanzkleid befestigte Leine losschmeißen und wir würden mit dem Fass sicher an Land schwimmen. Wir tranken Bier, während wir unseren Fluchtplan schmiedeten. Als wir damit fertig waren, war der Kasten leer.
Leider hatten wir die geplante Position, an der wir springen wollten, längst passiert. Wir befanden uns nun im breit aufgespreizten Mündungsgebiet des großen Flusses. War der Plan gescheitert? Im Fluss schwammen eine Menge Kaimane, das wussten wir. Wie sollten wir aus den Mangroven herausfinden. Wie eine Straße finden? Gedanken schossen mir in den Kopf, und ich mochte nicht in den Fluss. Doch andererseits war ich der Jüngste, der nicht gefragt wurde, was er von den Dingen hielt, sondern nur mitmachen durfte. Als „kleiner Schisser“ wollte ich nicht gelten.
„Also, was ist?“, herrschte Bajo mich an.
Ich nickte. Mein Verstand sagte mir, dass es keine gute Idee war, doch der Alkoholnebel und vielleicht auch das Gefühl des Gruppenzwangs waren stärker.
Die Nacht war stockfinster, als wir ans Heck der Christina Bischoff schlichen. Peter knotete das Fass an einem dünnen Seil fest. Es fiel mit einem ganz leisen Platschen über Bord. Bajo kletterte schnell über die Verschanzung und hangelte sich am Seil abwärts. Das gleichmäßige Drehen der Schraube war zu hören. Nun war ich an der Reihe! Ich handelte wie ferngesteuert, wie in einem Automatik-Modus. Ich sprang auf den Schanzdeckel und hing im nächsten Moment mit Händen und Beinen am Seil.
„Schneller, Junge, schneller!“, Bajo rief leise von unten. Ich war bereits auf halbem Weg zwischen Schiff und Fass, als die Leine durchsackte und ich ins Wasser des Mississippi platschte. Ich sah nach oben und erkannte im schwachen Licht der Hecklampe, dass Peter auch am Seil hing. Sofort schoss mir durch den Kopf: „Das Fass ist los! Ich muss weiter das Seil festhalten, sonst fällt Peter ins Schraubenwasser!“
Ich rutschte über das Wasser. Ich hatte so etwas schon einige Male erlebt, als wir Wasserski fuhren. Ich konnte den Kopf über dem Spritzwasser halten, aber nicht sehr lange. Peter hatte die Situation auch schnell erfasst und hangelte nicht, sondern rutsche schnell am Seil nach unten. „Loslassen!“, rief er und klatschte ins Wasser. Ich ließ die Leine los.
Nun schwammen wir nicht weit voneinander entfernt im Fluss. Vom Fass war nichts mehr zu sehen. Auch das Ufer war kaum zu erkennen. Bajo fluchte. Wir schwammen rechtwinklig zum weißen Schraubenwasser der Christina Bischoff. Die Minuten vergingen, wobei ich das nicht genau sagen kann, denn ich hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ich war ein sehr guter Schwimmer. Als 13 Jähriger hatte ich an den internationalen Wettkämpfen im Hamburger Kaifu-Bad teilgenommen. Nun war schemenhaft ein Uferstreifen zu erkennen. Wir schwammen darauf zu.
Ich hörte neben mir eine Art Schnaufen, ein stoßweises Atmen. Peter schwamm schwer, mit kurzen Zügen. Er atmete nicht rhythmisch. Ich erfasste die Situation sofort und spürte, wie Panik in mir aufstieg. Ich fühlte mich einen Moment lang wie gelähmt, doch dann rief ich mich zur Ordnung. Wir mussten handeln.
Bajo und ich nahmen Peter in die Mitte. Ich tauchte, löste Peters Gürtel, an dem eine Kamera hing, und zog ihm die schwere Jeans aus. Er schwamm immer langsamer und atmete in raschen, hektischen Hüben. Ich schwamm vor Peters Kopf, damit er sich an meinen Schultern festhalten konnte. Ich spürte, wie schwer dieser muskelbepackte Körper war. Es dauerte nicht lange und er drückte mich unter Wasser. Nach einigen nach oben gerichteten Schwimmzügen ließ ich mich absacken. Er ließ los. Bajo übernahm. Wir merkten jedoch, dass wir kaum vorankamen; die Abstände, in denen wir uns abwechselten, wurden kürzer.
Auch mein Atem ging immer schneller. Wir bewegten uns nur noch auf der Stelle. Das Ufer kam keinen Meter näher. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Scheiße – Scheiße!“, fluchte Bajo.
Wir konnten es nicht schaffen.
Wir mussten Peter loslassen.
Ich konnte deutlich sehen, wie er langsame, letzte Schwimmzüge machte. Dann verschwand er ganz langsam in der Dunkelheit. Er sah mich an.
Ich werde dieses Bild niemals vergessen.
„Kommt er wieder hoch?“, fragte Bajo. „Er kommt doch wieder hoch?“ Ein Rauschen in meinem Kopf. Zustand der Betäubung.
Mussten wir nicht wieder zurück? Mussten wir nach ihm suchen?
Wir schwammen weiter auf den Landstreifen zu, in meiner Erinnerung dauerte es nicht lange, bis meine Knie auf Grund stießen.
Hätten wir Peter bis hierhin halten können?
Bajo und ich taumelten durch das flache Wasser ans Ufer. Eine Weile blickten wir zurück auf das schwarze Wasser. Keiner sprach. Motorgeräusche. Suchte die amerikanische Küstenwache schon nach uns? Das Geräusch entfernte sich wieder. Nur das Zirpen von Grillen erfüllte die Nacht. Vor uns das dichte Gestrüpp der Mangroven. Die Erschöpfung machte sich bemerkbar. Wir sahen einen Baumstumpf und wollten uns gerade mit den Köpfen darauflegen, als der Baumstumpf Beine bekam und in der Dunkelheit des Urwalds verschwand. Ein kleiner Kaiman, den wir anscheinend geweckt hatten. Wir fluchten und suchten einen Baumstamm, der sich nicht bewegte. Der Schlaf kam wie eine warme Wolke. Zweimal wurde ich in der Nacht von Schreien wach, vielleicht träumte ich auch nur. Neben mir lag Bajo und schlief tief.
Mit dem Sonnenaufgang wurden wir wach. Ich trug nicht viel am Körper, außer meiner Jeans und einem T-Shirt. Alles andere hatte ich abgestreift, um besser schwimmen zu können. Bajo hingegen besaß noch sein Hemd und sogar seine Schuhe. Über dem Fluss waberten Schlieren von Dunst. Der Morgen war noch jung, aber schon stickig und schwül. Wir liefen los, was bedeutete, dass ich dem schweigenden Bajo folgte. Wir stießen auf einen Trampelpfad, dem wir folgten und der uns aus den Mangroven herausführte. Wo war die nächste Straße? Wo der nächste Ort? Meine Füße waren zwar an das Laufen ohne Schuhe gewöhnt, doch das Gras schnitt in die Hornhaut und verursachte kleine Risse. Bremsen fielen über uns her.
Ich überlegte, dass dies ein gutes Zeichen war, denn wo es Bremsen gab, musste es doch auch Rinder geben. In den nächsten zwei, drei Stunden sahen wir auch immer mal große, braune Viecher, doch es schien sich um verwilderte Tiere zu handeln.
Mit einem Mal blieb Bajo stehen. Eine große Schlange lag quer über den Pfad; ihre Enden waren im hohen Gras nicht zu sehen. Die Schlange rührte sich keinen Zentimeter. Bajo stieg vorsichtig über sie. Ich folgte ihm. Die Hitze setzte uns immer mehr zu. Wir benötigten nun dringend Wasser. Als es Mittag wurde, nach mehr als vier Stunden Marsch, erreichten wir einen hohen Gitterzaun. Dahinter standen Wachtürme auf Stelzen. Es war ein Stützpunkt der Küstenwache.
„Bajo, ich glaube, wir müssen uns stellen“, sagte ich.
Er schüttelte wortlos den Kopf und ging weiter. Was sollte ich tun? Ich überlegte kurz, folgte ihm dann