Dann endlich, nach etwas mehr als einer Woche, kam Bewegung in den Warteraum.
„Bark und Bajoralis: Große Fahrt!“, rief Heuerbaas durch die Luke. Beide sprangen auf und nahmen sofort an.
Was war mit mir?
„Lass die Finger von dem Kahn“, raunte mir Max zu.
„Ist das ein Tramper?“, fragte ich.
„Ja.“
„Dann nehme ich das Schiff!“
Er zögerte einen Augenblick, dann händigte er mit die Heuerpapiere aus, mit den Worten: „Junge, wenn du meinst.“
Die Matrosen hatten die Reaktion des Heuerbaases mitbekommen und fragten, was denn diese Bemerkung sollte. Ich schüttelte nur den Kopf, denn Zeit nachzudenken hatten wir keine. Unser Schiff, die Christina Bischoff, lag am Baumwall, also nicht weit entfernt, und als wir dort ankamen, erfuhren wir, dass wir noch am Abend auslaufen sollten.
Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause, holte meinen Seesack und einen kleinen Pappkoffer, den ich bereits gepackt hatte, und verabschiedete mich von meiner Mutter.
„Was ist das für ein Schiff?“, fragte sie besorgt.
„Weiß ich auch nicht genau – aber ein Tramper.“
„Was ist denn das?“
Da war ich schon zur Tür hinaus.
Dunkelheit lag über dem Hafen und es regnete, als ich an Bord der Christina Bischoff ankam. Das alte Dampfschiff machte einen verwahrlosten Eindruck: Die Luken waren noch nicht dicht und an Deck standen Fässer und andere Deckslast, alles ungelascht. Seeklar war dieses Schiff nicht. Und auch sonst in einem miesen Zustand. Die Schwingdavits waren durch den Rost regelrecht mit dem Deck verschmolzen und ließen sich nicht bewegen. Schanzkleid und Deck zeigten überall dunkle Rostflecken auf. Dieses Schiff war ein „Seelenverkäufer“.
„Sieh to (zu), dass du an Deck kommst“, schimpften die Matrosen. Ich lief runter in die Mannschaftsunterkunft, zog mir rasch die Arbeitskleidung über und eilte an Deck. In diesem Moment wurden schon die Leinen losgeworfen. Wir liefen aus. Einer von uns musste steuern. Wir fünf Deckkräfte versuchten, das Chaos in Ordnung zu bringen. Wir wuchteten die schweren Lukendeckel, die jeweils einen Zentner wogen, auf die Scherbretter, wie man quer zur Luke eingehängte Stahlträger nannte. Vorsicht war geboten, denn wegen des Regens war das Deck rutschig. Aus der Brückennock grölte der Erste Offizier Anweisungen, die Lukendeckel provisorisch mit einer Persennig abzudecken. Als wir die Kugelbake von Cuxhaven passierten mit Kurs Englischer Kanal, hatten wir dies geschafft und auch die Fässer behelfsmäßig gelascht.
Wir spürten Erschöpfung und Hunger, wir brauchten dringend eine Pause. Der Koch hatte tatsächlich belegte Brote vorbereitet. Der Chief beorderte die 00-04-Wache, zu der ich gehörte, in die Kojen, obgleich das Schiff noch immer nicht wirklich seeklar war. Total verschmiert ging ich in den kleinen Waschraum. Auf einem Dampfschiff gab es immerhin ausreichend heißes Wasser und Dampf. Es gab verzinkte Waschbecken und zwei mit Ventilen versehene Dampfrohre, die quer durch den Raum liefen. Als das Schiff zu rollen begann, verlor ich den Halt und fiel auf eines der heißen Rohre. Der rote Streifen am nackten Po sollte mich noch einige Zeit begleiten. Fluchend legte ich mich in die Koje, um ein wenig zu dösen, bevor um Mitternacht meine Wache begann.
Die ganze Nacht hindurch wurde an Deck gearbeitet, um die ungesicherte Deckslast in den Griff zu bekommen. Angesichts der See, die immer schwerer wurde, kein leichtes Vorhaben. Zum Glück waren nur erfahrene Seeleute an Bord: drei Matrosen, ein Leichtmatrose und zwei Jungmänner, die wussten, was zu tun war und die vor allem seefest waren. Nordseewasser schoss durch die Speigatten nach oben, wir mussten aufpassen, dass es uns nicht von den Füßen riss. Immer wieder rollte ein großes Fass über das Deck und stellte uns vor Schwierigkeiten. Mit einigen Broken3 und langen Leinen, die wir mit „Spanischen Winden“ (kurze Holzknüppel zum Eindrehen) strafften, gelang es uns schließlich, die Dinger stramm am Schanzkleid zu befestigen.
Nachdem die Probleme befestigt waren, wurde es ruhiger. Die Reise ging durch die Biskaya, durch das Mittelmeer, das Schwarze Meer nach Italien, wo wir große Mengen Martini, Wein und andere Getränke in Kartons luden. Damit setzten wir die Reise fort, mit Ziel New York. Es wurde eine ruhige Transatlantik-Passage, und an Bord herrschte eine gute Stimmung. Wir verstanden uns. In New York angekommen, lagen wir in Brooklyn neben einem Kreuzfahrtschiff. Wir beeindruckten die weiblichen Passagiere, indem wir aus der Saling, also hoch oben am Mast, ins Hafenbecken sprangen. Immer haarscharf am Schanzkleid vorbei, was mindestens eine böse Verletzung zur Folge gehabt hätte. Nach New York steuerten wir Miami an, wo wir nachts im Pool eines Hotels schwammen, bis wir von Sicherheitsleuten verjagt wurden. Es war eine Abwechslung zum tristen Alltag an Bord. Der Smutje machte Geschäfte mit unserem Proviant, und wir vermuteten, dass auch die Schiffsleitung darin verwickelt war. Man drehte uns Margarine in Butterbrotpapier an. Das Essen war oft schlicht ungenießbar. Freitags gab es Fisch, der so übel stank, dass wir ihn gleich über Bord kippten. Alles an diesem Schiff war schlecht. Der Alte, ein betagter Herr, war selten zu sehen, und wenn, dann war seine Laune unerträglich. Je länger die Reise dauerte, desto feindseliger wurde das Verhältnis zwischen Schiffsleitung und der Crew. Mir ist bis heute ein Rätsel, wie dieses Schiff eine Fahrterlaubnis bekam.
Mit dieser angespannten Situation an Bord steuerte die Christina Bischoff das Mündungsdelta des Mississippi an. Wir fuhren den großen Fluss hinauf bis nach New Orleans. Hier begann ein Drama, dessen tragisches Ende mich bis zum heutigen Tage, viele Jahrzehnte später, verfolgt.
New Orleans, „The Big Easy“, die Stadt des Jazz und der harten Partys, gefiel uns jungen Seeleuten ausgesprochen gut. Jede Nacht stromerten wir durch die Clubs entlang der Canal Street. Jung, braungebrannt und voller Testosteron. Es gab nur ein Problem: unseren ständigen Geldmangel. US-Dollar waren kostbar und mit unserer bescheidenen Heuer, ausbezahlt in D-Mark, kamen wir nicht weit. Glücklicherweise ging beim Löschen der Ladung immer wieder ein Karton mit italienischen Spirituosen zu Bruch. Einzelne Flaschen, die wir aufsammeln durften, verkauften wir dann an Land.
Es dauerte nicht lange, bis wir drei hübsche Mädchen kennenlernten. Peters Bekanntschaft war die Tochter eines Zahnarztehepaars und mit einem kleinen, offenen Sportwagen der Marke Triumph unterwegs. Ihre Eltern besaßen ein Wochenendhaus direkt am Golf von Mexiko. Sie lud uns alle ein, das Haus zu besuchen. Der Alte hätte uns einen Landurlaub niemals genehmigt. Doch die Gelegenheit war einfach zu gut. Wir willigten ein. Über die Konsequenzen konnten wir uns noch später Gedanken machen.
Im offenen Wagen brausten wir über die Straßen Richtung Meer, lachend, fröhlich, wir spürten den warmen Fahrtwind im Gesicht. Das Ferienhaus war sehr großzügig eingerichtet. Es gab eine überdachte Wassergarage, in der ein Motorboot lag. Wir fühlten uns großartig, wir fühlten uns so frei. Es waren unbeschwerte Tage, in denen wir im warmen Wasser schwammen, kaltes Bier tranken und Wasserski fuhren.
Wir fühlten uns wie die Könige der Welt.
„Ich bleibe hier“, sagte Peter in einem Moment, als wir ohne die Mädchen auf der Veranda saßen.
Wir sahen ihn erstaunt an. Abhauen? Ohne Erlaubnis und ohne Papiere? Das roch nach einer Menge Ärger. Andererseits: War dies nicht das Paradies? War das Leben in New Orleans nicht alles, von dem wir immer geträumt hatten? Nun war es so nah. Zwei unbeschwerte Tage vergingen, in denen wir immer wieder über diesen Gedanken sprachen.
Am Morgen des dritten Tages, wir saßen bei geöffneten Fenstern und frühstückten, klopfte jemand energisch an die Tür. Mir war sofort klar, was für eine Art Klopfen das war und ich kletterte auf einen Stuhl, um im Ernstfall über den Tisch durchs Fenster