Der in geometrischen Proportionen geformte Kosmos war für Anaximandros allerdings nur sein gegenwärtiger Zustand; denn ähnlich wie das vom Feuer besiegte Wasser seinerseits das Feuer besiege, entstünden alle Dinge dadurch, dass sie sich durch ein Überschreiten ihrer Grenzen an die Stelle eines anderen setzten und aus diesem entstünden, sich also schuldig machten. Die ihre Schuld wieder ausgleichende Sühne bestehe darin, dass ihnen dasselbe Schicksal widerfahre. So entstünden in ständigem Wechsel die Dinge wie Sommer/Winter, Tag/Nacht, Geburt/Tod usw. Auch das Austrocknen und Überschwemmen der Erde erfolge abwechselnd nach solchen Perioden, so dass es viele ›Welten‹ (im Sinne von ›Kosmos‹ als geordnetem Zustand) nacheinander gebe und die gegenwärtige zu bestehen aufhöre, wenn alle Feuchtigkeit der Erde entzogen sei.
In den Prozess des Verdunstens des Wassers und des Trockenwerdens der Erde bezog Anaximandros konsequent alle atmosphärischen Erscheinungen und Lebensprozesse mit ein: Vormals könne es nur aus dem Urschlamm entstandene Wassertiere gegeben haben, so dass auch der Mensch ursprünglich in einem solchen aufgewachsen sei – noch heute bedürfe er deshalb langer mütterlicher Fürsorge. Auch die maritimen Fossilien und Muschelschalen in gegenwärtig vom Meer abgeschlossenen Höhen finden aus diesem Zusammenhang heraus ihre Erklärung. Jenes Schuld-und-Sühne-Prinzip, das der menschlichen Sphäre entnommen wurde und sich im Ansatz auch bei Hesiodos schon als Grund für die Machtfolge der einzelnen Göttergenerationen fand, kann durch die Übertragung auf alles Geschehen in der Natur als erstes Erkennen einer Art von Naturgesetzlichkeit aufgefasst werden. Auch die geometrische Formung des Kosmos und der Erde, deren angenommene Verhältnismaße es Anaximandros ermöglichten, einen ersten Himmelsglobus und eine erste Erdkarte nach diesen Proportionen zu konstruieren, ist eine der Voraussetzungen für die spätere Wissenschaft von der Natur. Mit Hilfe von Schattenmessungen mit dem von den Babyloniern übernommenen Gnomon gelang ihm zudem erstmals eine Bestimmung der Mittagshöhe der Sonne zur Zeit der Sonnenwenden, deren Zustandekommen er meteorologisch erklärte, und damit der Schiefe der Ekliptik, die für die Lage seiner Gestirnsräder wichtig war. (Die erscheinende Bewegung der Gestirne beruht hiernach auf einer täglichen Drehung des schlauchförmigen Rades um die Erde, überlagert von einer dazu rechtwinkligen Auf- und Abbewegung des gesamten Rades im Rhythmus der Sonnenwenden.) – In des Anaximandros umfassendem kosmologisch-kosmogonischen Gedankengebäude werden Beobachtungen noch stark verallgemeinert, und es wird noch nicht getrennt zwischen physischem, biologischem, menschlichem und mathematischem Bereich. Aber ein Anfang war getan, und die Nachfolger konnten es an den Phänomenen messen, fehlende Aspekte ergänzen und unsachgemäß erscheinende verwerfen und damit allmählich die Grundlagen für eine Wissenschaft von der Natur legen.
Anaximandros’ jüngerer Landsmann Anaximenes gab beispielsweise dem noch völlig unbestimmten ›Apeiron‹ eine Bestimmtheit im Sinne dessen, was später ›Materie‹ wurde, und fasste als das bleibende Urprinzip dieser ›Materie‹ die Luft auf, aus der aufgrund des physikalischen Prozesses der Verdichtung und Verdünnung alle Erscheinungsformen (Dinge) entstehen und bestehen sollen. In verdichtetem Zustand werde Luft feucht, kalt und träge und erscheine als Wolken, Wasser, Eis und schließlich feste Stoffe, verdünnt werde sie trocken, warm und beweglich und erscheine als feurig-glühend. Die Welt und alle Dinge bestünden folglich aus ›Luft‹ in jeweils anderem Zustand; sie entstünden und veränderten sich in qualitativen Prozessen. Alle Unterschiede seien relativ, und die Kenntnis einer Eigenschaft vermittle jene der mit ihr jeweils in analoger Relation zusammen auftretenden, zum Teil den Sinnen verborgenen von selbst. Anaximenes gelang durch die physikalische Umbildung des ›Apeiron‹ eine für seine Zeit recht plausible Erklärung verschiedenartiger Erscheinungen und ihres Entstehens, von solchen meteorologischer und astronomischer bis zu solchen seismischer Art. Für die Erde meinte er jedoch wieder einen Halt annehmen zu müssen: Er lässt ihre flache Scheibe »wie ein dünnes Blatt« auf der Luft schwimmen, was allerdings zur Folge hat, dass er den ›eisartigen‹ (kristallenen) Himmel, an den die Fixsterne »wie Nägel geheftet sind«, nicht mehr als Hohlkugel ansehen kann: Er bestünde nur aus einer Glocke, die sich »wie ein Hut um den Kopf« schräg zur Erdebene um die Erdscheibe drehe. Hohe Randgebirge ließen die Fixsterne für uns unsichtbar werden und scheinbar untergehen. Ähnliches soll für Sonne, Mond und eine unbestimmte Anzahl anderer ›Gestirne‹ gelten, die als flache Scheiben aus verdünnter (selbstleuchtender) Luft sich schnell durch die ›Lüfte‹ bewegten oder als solche aus verdichteter (dunkler) ›Luft‹ von Winden unter dem Himmel umhergetrieben würden, ohne unter der Erde hindurch zu ziehen; vielmehr würden sie um die Erde herumziehen und bei ihrem scheinbaren Untergang sich so weit entfernen, dass die Randgebirge sie der Sicht der Erdbewohner entzögen. Der Mond, dessen Fremdlicht Anaximenes erstmals erkannte, sei eine solche dunkle erdige Scheibe, andere verursachten die Finsternisse von Sonne und Mond.
Die Grundzüge der kreisförmigen Erdkarte von Anaximandros lassen sich rekonstruieren, da Hekataios, der ebenfalls aus Milet stammte und dort wirkte, sie verbesserte und Teile von seiner Karte sich aus der Kritik erschließen lassen, die Herodotos aus Halikarnassos, der ›Vater der Geschichtsschreibung‹, daran aus besserer Anschauung heraus üben konnte. Die durch Mittelmeer, Schwarzes Meer und Phasis in Europa und Asien halbierte, vom Okeanos umflossene Erdscheibe (deren Südhälfte später durch den Nil nochmals in Afrika und Asien unterteilt wurde) setzt sich danach aus geometrischen Figuren zusammen, die durch Flüsse, Küsten, Gebirge und anderes als natürliche Grenzen gebildet werden. Diese ›ionische‹ Erdkarte in T-Form blieb bis Eratosthenes maßgeblich und wurde auch noch im Mittelalter verwendet, jetzt mit Jerusalem statt des »Nabels der Welt« Delphi als Mittelpunkt.
Anaxagoras
(*um 500 v. Chr. Klazomenai/Kleinasien,
† um 425 Lampsakos)
Empedokles
(um 485 v. Chr, Akragas [heute Agrigento], † um 425)
In Milet, wo seinerzeit allem Anschein nach eine erste Philosophenschule bestand, wurde auch der aus dem nahen Klazomenai stammende Anaxagoras stark durch die Lehren von Anaximandros und Anaximenes beeinflusst und kam dann um das Jahr 480 in das noch altgläubige Athen, wo er mit seinen die Welt entmythologisierenden aufklärerischen Lehren rasch bedeutende Männer wie Perikles und Euripides zu Freunden und Anhängern gewann. Um das Jahr 430 v. Chr. wurde er jedoch gerade wegen dieser Lehren der Gottlosigkeit (Götterleugnung) angeklagt – wie später Sokrates. Allein das Eingreifen von Perikles bewahrte ihn vor der Todesstrafe. Er musste allerdings Athen verlassen und begab sich nach Lampsakos am Hellespont, wo er nach wenigen Jahren hoch geachtet verstarb.
Empedokles, dessen Wanderleben als Redner, Arzt, Sühnepriester und ›Magier‹ ihn durch Sizilien und die Peloponnes führte, war wie Pythagoras eine jener frühen, offenbar vom Orient her beeinflussten mystischen Gestalten, die heilend, ordnend und schlichtend durch die Lande zogen, scheinbar mit übernatürlichen Kräften über die Elemente und Geister ausgerüstet – wie sich Empedokles durchaus auch selber sah – und von ihren Anhängern abgöttisch verehrt, weshalb sie schnell von vielen Legenden umrankt waren. Empedokles war die wohl profilierteste dieser widersprüchlichen Persönlichkeiten. Er bediente sich für die ›Verkündung‹ seiner Erkenntnisse und Lehren auch hexametrischer Lehrgedichte in der gebundenen Sprache des Epos, die auch wie Ilias und Odyssee von Rhapsoden vorgetragen und so verbreitet wurden. Aus umfangreichen Fragmenten sind noch zwei seiner großartigen Dichtungen in groben Umrissen bekannt, von denen die später ›Über die Natur‹ benannte seine Naturlehre enthielt.
Beide unternahmen gleichzeitig mit den Atomisten Leukippos und Demokritos die drei älteren Versuche, das allein erkennbare unveränderliche Sein der Ontologie des aus Elea stammenden Parmenides mit der von den milesischen Naturphilosophen erkannten Veränderlichkeit aller natürlichen Dinge in Einklang zu bringen, wonach, wie Herakleitos pointiert formulierte, ein Ding etwas ist (eine Eigenschaft hat: groß, bunt, hart usw.) und im nächsten Augenblick dies nicht (mehr) ist. Solches Loslösen der Kopula ›ist‹ aus dem Satzverband, das ihr ohne das Prädikativum den Sinn einer Aussage schon selber beimisst, so dass dasselbe ist und nicht ist, führte Parmenides zu einer strengen Scheidung von Sein und Nicht-Sein: Das Sein (oder das Seiende) selbst sei der gewohnten sinnlichen Erfahrbarkeit entrückt, sei