Schöne Ungeheuer. Wilfried Steiner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Steiner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362929
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aus Herberts Aufdeckungsprojekt wieder auszusteigen.

      Um fünf vor drei erhob ich mich und ging ein paar Schritte zum Haupteingang des Museums. Auf einer Säule entdeckte ich unter dem Hinweis Kulturdenkmal eine aufgesprühte Warhol-Banane. Mit Sunday Morning im Ohr verließ ich den Park und beschloss, Linz von nun an sympathisch zu finden.

      Es war exakt 15 Uhr, als Frau Dr. Eva Mattusch aus dem Gebäude trat. Ich hielt mich zurück, stürzte nicht gleich auf sie los, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich ihr Gesicht schon gegoogelt hatte. Mein Blick schweifte herum, blieb manchmal kurz an ihr hängen, schweifte weiter. Tatsächlich sah sie nicht so aus wie auf ihren Bildern im Netz. Von Business-Kostüm keine Spur. Sie trug eine nicht mehr ganz neue Jeansjacke, die Haare hatte sie sich mit einem orangefarbenen Tuch nach hinten gebunden, dessen lose Enden ihr über den Rücken fielen. Auch die weißen Turnschuhe, sicher ebenfalls keine Neuerwerbung, überraschten mich. Sie kam auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen und sagte fröhlich: „Ich denke, Sie suchen mich. Georg Hollaus, nicht wahr?“

      Ich schüttelte ihre Hand und nickte.

      Mit einem Mal begann sie zu lachen und fächerte sich dabei mit den Fingern Luft zu wie ein junges Mädchen.

      „Verzeihen Sie bitte“, sagte sie, nachdem der Heiterkeitsanfall abgeebbt war, „aber ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.“

      „Wie denn?“ Blitzschnell blickte ich nach unten und scannte meine Kleidung. Grafitfarbener Anzug, hellblaues Hemd, passende Krawatte. So ungefähr sollte man doch aussehen, wenn man eine Anwältin traf, oder?

      „Na ja“, gluckste sie, „nicht so … so seriös.“

      „Warum nicht?“

      Jetzt hatte sie sich wieder gefangen. „Sie sind doch der Tunguska-Mann, oder nicht?“

      Ich spürte, wie eine mir vertraute Wut nach oben stieg und eine sanfte Röte sich auf meine Wangen legte.

      „Ich weiß nicht, ob mir diese Bezeichnung gefällt.“

      Eva nahm meinen Arm und zog mich vom Eingang des Landesgerichts weg.

      „Kommen Sie, gehen wir auf einen Kaffee. Den hab ich heute nötig.“

      Wir schlenderten den Weg zurück, den ich gekommen war, querten den Taubenmarkt, folgten einer Straße, die den glamourösen Namen Promenade trug, und blieben vor einem Kaffeehaus stehen, dessen Gastgarten durch eine beige Markise vor der Sonne geschützt wurde. Die Terrasse war voller Menschen, doch Eva entdeckte ein leeres Tischchen und schob mich darauf zu.

      „Hier gibt es den besten Espresso der Stadt!“, sagte sie.

      Wir nahmen Platz, und binnen Sekunden stand ein Ober neben uns. Nein, neben Eva. Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln, mich würdigte er keines Blickes.

      „Also“, fragte Eva, nachdem wir bestellt hatten, „wie läuft es denn so mit Tunguska?“

      „Beginnen wir doch anders“, entgegnete ich. „Erzählen Sie mir einfach alles, was Sie schon wissen. Dann langweile ich Sie nicht.“

      Sie schmunzelte. „Na gut. Viel ist es nicht. Herbert sagt, Sie hätten ein ungewöhnliches Hobby.“

      Da war es wieder, dieses Wort. Unwillkürlich schloss ich die Finger meiner linken Hand zu einer Faust. Eva sah es und reagierte sofort.

      „Auch wenn Sie selbst es lieber anders nennen würden. Eine Leidenschaft vielleicht?“

      Die Muskeln meiner Hand lockerten sich wieder.

      „Jedenfalls schreiben Sie doch an einem Buch, nicht wahr? Den Titel finde ich wunderschön: Tunguska oder die Schönheit des Irrtums.“

      Jetzt schnellte mein Oberkörper in die Höhe, die Knie drückten sich durch wie bei einem Skispringer an der Schanzenkante, meine Hände klammerten sich an den Rand des Tischchens.

      „Den Titel hat er Ihnen auch –?“ Ich stockte. Wurde mir schlagartig meiner unpassenden Körperhaltung bewusst und setzte mich wieder hin.

      Mit beruhigender Stimme, so wie man auf einen Verrückten einredet, sagte Eva:

      „Seien Sie ihm nicht böse deswegen. Er hat ihn mir nur deshalb anvertraut, weil er so begeistert davon ist. Wie ich. Ein Buch mit diesem Titel würde ich gerne lesen.“

      „Begeistert? Von etwas, das nicht er selbst gemacht hat?“ Ich bemerkte, dass meine Stimme kippte, und riss mich zusammen. Hände flach auf die Oberschenkel legen, langsam und bewusst atmen!, hätte Manfred gesagt. Manfred, der Meister der Selbstbeherrschung. Langsam kroch ein Gedanke in mein Bewusstsein, von irgendwo ganz unten: Ich konnte die meisten Menschen nicht ausstehen. Genau genommen nicht einmal Helga. Geliebt hatte ich sie, ja, besonders am Anfang und gegen Ende, aber gemocht? Gerngehabt? Würde man die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu Rate ziehen, konnte das Ergebnis nur sein: Es muss an mir liegen. Ich gebe es zu! Aber ich will jetzt kein Wort über meine Kindheit hören!

      Frau Doktor Mattusch hatte die äußeren Erscheinungsformen meines inneren Kampfes ruhig betrachtet, mit locker vor der Brust verschränkten Armen. Sie trank einen letzten Schluck Espresso, drehte dann die Tasse um und hielt sie sich über den geöffneten Mund, als wollte sie sichergehen, dass sie keinen einzigen Tropfen vergeudet hatte. Eine Geste, die ich lange nicht mehr bei einem erwachsenen Menschen beobachtet hatte. Dann beugte sie sich über den Tisch und schob ihre Hände in meine Richtung, ohne mich zu berühren.

      „Wie weit sind Sie denn schon mit Ihrem Buch?“

      Mit offenem Mund atmete ich lange ein. Stieß dann die Luft wieder aus, mit einem rasselnden Geräusch. Erst dann war ich bereit für einen bedeutungsschweren Satz:

      „Reden wir bitte von etwas anderem.“

      Eva schaute mich kurz prüfend an, wischte sich mit der Serviette über den Mund und sagte dann, als verkünde sie das Urteil der Geschworenen nach langwierigen Verhandlungen:

      „Einverstanden. Und worüber?“

      „Darüber, was Sie mit Herbert Schiller zu tun haben.“

      Sie lehnte sich zurück. Wieder die spöttische Miene.

      „So feinfühlig, wie ich befürchtet habe, sind Sie also gar nicht. Sie haben durchaus ein Talent für Verhöre.“

      Touché. Darauf fiel mir nichts ein. Ich senkte den Kopf. In meinem Nacken spürte ich kalte Tropfen. Ich wischte sie mit meiner Serviette weg, aber sofort waren sie wieder da. Konnte ich so stark schwitzen? Hier stimmte etwas nicht.

      Ich schaute zu Eva. Sie kämpfte mit einem Lachanfall, zum zweiten Mal heute. War ich hier der Clown vom Dienst?

      „Das sind Wassersprühdüsen“, kicherte sie. Ich verstand kein Wort.

      „Eine geniale Erfindung.“ Sie zeigte auf ein silbernes Röhrchen, das hoch über mir aus der Außenwand des Hauses ragte. In der Tat schossen aus der Mündung feine Fontänen direkt in mein Genick.

      „So kann man es selbst im Sommer hier aushalten.“ Sie winkte dem Ober, nein, sie hob einen Finger, und er war schon da.

      „Das Übliche?“, fragte er. Sie schloss nur kurz die Augen. Er verschwand mit einer Bewegung, die man früher einen Diener genannt hätte.

      „Ich hab ihn einmal wo rausgeboxt.“

      „Den Ober?“

      Dieses Mal kontrollierte sie sich. Stoppte das Lachen irgendwo zwischen Brustkorb und Kehlkopf. Blieb ernst.

      „Nein. Herbert. Haben Sie Ihre Frage so schnell vergessen?“

      Ja, Herbert, genau, Herr Schiller, der Großmogul des Marketing, und diese Rechtsanwältin, die eben ihre Jeansjacke auszog, über die Stuhllehne hängte und damit den Aufdruck einer gefiederten Schlange auf dem Ärmel ihrer Bluse bloßlegte – was konnten sie miteinander zu tun haben? Es fiel mir nicht schwer, mir Dr. Eva Mattusch vor Gericht mit roten Boxhandschuhen vorzustellen. Ich sah sie vor mir, wie