„Die heißen Handzellen“, flüsterte mir Eva ins Ohr. „Wer sich solche Namen wohl ausdenkt?“
Sie fasste mich am Arm und zog mich weiter.
„Wir müssen hier entlang.“
Sie führte mich in einen Raum, in dem sechs Menschen in Kojen mit gläsernen Seitenwänden saßen. Es gab acht solche Kojen, in zwei davon standen leere Stühle.
„Der in der Mitte ist für Sie“, sagte Eva. „Nehmen Sie bitte Platz, Jelena wird gleich kommen.“ Damit schlüpfte sie aus der Tür und ließ mich allein.
Ich nickte den anderen Besuchern zu und murmelte Begrüßungsworte, doch niemand nahm Notiz von mir. Der Raum war in Längsrichtung durch eine bis zur Decke reichende Glaswand geteilt. Auf der einen Seite saßen die Besucher, ihnen gegenüber die Insassen. Alle hielten Telefonhörer in der Hand. Ich bewegte mich nicht und starrte aus dem Fenster, sah die furchteinflößende Stacheldrahtumzäunung. Ich kämpfte gegen einen Fluchtreflex, versuchte, mich zu beruhigen, und setzte mich auf den Platz in der Mitte des Raumes. Vor mir die Glaswand und ein leerer Stuhl. In der Ecke des Bereichs für die Häftlinge saß ein Beamter und löste ein Kreuzworträtsel. Ich hatte das Gefühl, mich in einer singulären Zone zu befinden, in der die Zeit nicht mehr voranschritt.
Da öffnete sich die Tür und eine Frau schwebte herein. Ja, schweben ist der richtige Ausdruck. Ich erkannte sie nicht sofort, sie trug ihre weißblonden Haare jetzt kurzgeschnitten. Sie war geschminkt, hatte die Augenbrauen und die Lider mit einem Kajalstift nachgezogen. Die Wimperntusche ließ ihre grünen Augen riesig erscheinen. Sie sah, dachte ich in diesem Moment, exakt aus wie Jean Seberg in Außer Atem. Bis auf die Augenfarbe vielleicht, das vermochte ich nicht mit Sicherheit zu sagen, schließlich war Außer Atem ein Schwarzweißfilm und ich konnte mich nicht entsinnen, je ein Farbfoto von Jean Seberg gesehen zu haben. Wobei grün ja auch so eine Allerweltsbezeichnung ist. Sagen wir so: Vor Jahrzehnten unternahm ich eine Reise in die Türkei und verbrachte viele Stunden im Topkapi-Museum. Angeregt vom Film mit Melina Mercouri suchte ich zuerst den berühmten Dolch. Er lag in einer Glasvitrine im hinteren Teil der Schatzkammer. Sein Griff wird von drei riesigen Smaragden gebildet. Im künstlichen Licht schienen sie ihre Farbe ständig zu verändern, von hell zu dunkel und wieder zurück. Es sah aus, als würden die Steine atmen. Dieses Grün meine ich. Der Dolch wäre zudem als Mordwaffe für diese Frau viel passender gewesen als ein Brieföffner.
Jelena bewegte sich auf den Stuhl zu, der meinem gegenüberstand, nahm aber nicht Platz. Trotz des Overalls, den sie trug, erahnte ich die Feingliedrigkeit ihres Körpers. Die Unterarme wirkten dünn und fragil, auch die Schlüsselbeine. Nur ihre Stirn erweckte den Anschein von Sturheit und Durchsetzungsvermögen. Ich stellte mir vor, wie sie damit Bretter durchstieß, die ihr uralte Shaolin-Mönche vors Gesicht hielten.
Sie stand noch immer. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie auf eine Geste von mir wartete. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich zeigte auf ihren Stuhl und murmelte etwas wie „bitte, setzen Sie sich doch“. Sie konnte mich nicht hören, trotzdem setzte sie sich und nahm den Telefonhörer auf.
Der Hörer, natürlich. Es war mir gar nicht bewusst gewesen, dass es solche Gegenstände noch gab. Schwarz und altmodisch lag er vor mir, wie in einem Gerichtsfilm aus den Fünfzigerjahren.
„Danke“ war das erste Wort, das ich von ihr hörte.
Es löste einen Impuls aus, den ich nur unter großer Kraftanstrengung zu unterdrücken vermochte. Es drängte mich, ihr zu sagen: Bitte erzählen Sie mir, was in jener Nacht wirklich geschehen ist, Sie können keine Mörderin sein, Sie dürfen Ihr Leben nicht durch ein falsches Geständnis wegwerfen, ich persönlich werde Sie hier herausholen, etc.
Doch ich sagte nur:
„Ich danke Ihnen. Dass Sie mir erlauben, mit Ihnen zu sprechen.“
Jelena Karpova ließ sich Zeit mit ihren nächsten Worten.
„Warum sind Sie wirklich hier?“
„Nun, ich habe einige Ihrer Veröffentlichungen über Ihre Arbeit …“
Sie erhob sich.
„Das stimmt, bitte glauben Sie mir. Aber Sie haben recht, es gibt noch einen wichtigeren Grund.“
„Und der wäre?“
„Sibirien.“
„Aha. Inwiefern?“
„Sie … Sie stammen aus Krasnojarsk, und ich arbeite an einem Buch über Tunguska. Hat Ihnen Frau Dr. Mattusch nichts davon erzählt?“
Sie setzte sich wieder.
„Doch, hat sie. Ich wollte es nur aus Ihrem eigenen Mund hören.“
Sie beugte sich weit nach vorne, bis ihre Stirn fast das Glas berührte.
„Und ich weiß, dass das auch eine Lüge ist. Aber wenigstens eine interessante.“
Sie kam mir ganz nahe, doch ich wich nicht zurück.
„In diesem Fall“, sagte ich, „muss ich Sie enttäuschen. Das Buch gibt es tatsächlich. Das heißt, nicht das Buch, aber die Idee. Alles schon in meinem Kopf.“
„Noch keine einzige Seite geschrieben, richtig?“
Schuldbewusst senkte ich den Blick.
„Tausende Zettel, der Laptop voller Daten, Regale, in denen sich Bücher und DVDs stapeln, überall verstreute USB-Sticks – so ungefähr?“ Es klang belustigt, aber nicht geringschätzig.
„Das trifft es ziemlich genau“, sagte ich leise.
„Machen Sie sich keine Sorgen, das kommt schon. Wenn ich an mein erstes Buch denke, da war es auch so. Beinahe hätte ich das gesamte Material vernichtet, bevor ich den ersten Satz formuliert habe. Trösten Sie sich: Beim zweiten Buch wird’s besser.“
„Ich habe es gelesen“, sagte ich.
„Was?“
„Ihr erstes Buch. Worauf wir hoffen. Über die Entdeckungen der Zukunft.“
„Ach, wirklich?“ In diesem Augenblick sah ich zum ersten Mal, wie sie mit Eleganz ihre rechte Braue hochzog. Man kennt das ja, in den Gesichtern von Menschen, die Zweifel, Verwunderung und Überlegenheit zum Ausdruck bringen wollen. David Niven, wenn ihn etwas belustigte, zum Beispiel. Bei Jelena war es anders. Zwar strahlte diese Bewegung der Braue auch eine gewisse Dosis Spott aus, doch ohne jede Spur von Verachtung oder Selbstgewissheit. Ihr Gesicht war dabei offen und neugierig. Es kam mir vor, als würde ich in das Antlitz eines Mädchens blicken, das die Wunder der Erde bestaunt.
„Und?“, fragte sie.
„Ich muss gestehen, ich habe nur Teile verstanden. Es hat mir deutlich gemacht, wie wenig ich weiß.“
„Dann haben Sie es doch verstanden“, sagte sie. „Es ist ein Buch darüber, wie wenig wir wissen. Viele Theorien, wenig Beweise.“
„Wie bei Tunguska“, sagte ich ohne nachzudenken.
Sie klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Kinn, schob ihre feinen, weißglatten Hände auf der Tischplatte ineinander.
„Da ist es noch schlimmer. Hundert Hypothesen, kein einziger Beleg.“
„Sie haben sich mit dem Ereignis beschäftigt?“, fragte ich vorsichtig.
Ihr erstes Lachen.
„Ich habe den unstillbaren Drang, mich mit allem zu beschäftigen, was unser Fachgebiet betrifft. Das wird mir noch einmal zum Verhängnis werden.“
Ihr Lachen erstarb, etwas wie ein Schleier legte sich über ihre Augen.
„Oder ist es schon geworden.“
„Wie meinen Sie das?“ – Fragen wie diese durfte ich jetzt nicht stellen. Es fiel mir nicht leicht. Sie wandte sich ab, ich sah den Flaum ihrer Nackenhaare. Für