Raunen dunkler Seelen. Isabella Kubinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Isabella Kubinger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079767
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Heimat meiner Schwester. Endlich würde ich mit eigenen Augen die Wunder, von denen mir Lorca in etlichen Nächten erzählt hatte, bestaunen können.

      Von dort müsste ich dann auch die notwendige Hilfe bekommen können, um meinen zurückgelassenen Bruder vor unserem angeblichen Vater, dem falschen König von Katalynia, zu warnen und ihn aus seinen hinterlistigen Klauen zu befreien.

      Plötzlich schoss es mir wieder ein. Malik befand sich doch schon längst nicht mehr in den finsteren Mauern der Hochkönigsburg. Irgendwo weit im Norden, hinter den schneebedeckten Bergen würde er seine eigenen schlauen Pläne, um zu mir zu gelangen, entwerfen. Hoffentlich würde er dabei nicht in irgendeine versteckte Falle tappen. Ich konnte nur hoffen, dass ihn Onkel Tamos Leute noch rechtzeitig vor kreativen Martyrerplänen abhalten können.

      Während Lorca seine braune Stute von der stacheligen Hecke holte, sah ich mich wieder nach Suna um. Sie hatte schon lange keinen Laut mehr von sich gegeben. Ehrlich gesagt wusste ich auch nicht, wie nahe sie ihren gefallenen Freunden gestanden hatte. Ich war hin- und hergerissen, zwischen dem Gefühl, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, und ihr mehr Platz für sich selbst zu geben. Eigentlich, wenn ich noch mehr darüber nachdachte, war ich so sehr in meinem eigenen inneren Schmerz verloren gegangen, ohne zu merken, wie es meinen noch immer fremden Begleitern ging. Meiner neuen Familie. Jeder hier musste eine ganz individuelle Vorgeschichte mit den toten Kriegern gehabt haben.

      „Komm, ich helfe dir.“

      Ich hatte wieder einmal nicht mitbekommen, wie sich der morodekische Krieger zu mir gestellt hatte. Nun deutete er auf die sanfte Stute neben sich, als ich ihn nur verwirrt musterte. Was war nur los mit mir? Hatten mich alle guten Geister verlassen?

      „Geht schon, danke“, brachte ich irgendwie heraus.

      Schwungvoll hievte ich mich in den ledernen Sattel und wartete, dass sich Lorca zu mir gesellte. Als wäre es ein Tanz für sich, schwang er sich hinter mir hinauf. Ich spürte ganz deutlich, wie sich seine trainierten Brustmuskeln anspannten. Es war schön zu merken, dass nicht nur er eine einzigartige Wirkung auf mich hatte. Jede Faser, jedes Stückchen Haut begann unter seinen unbewussten Berührungen zu kribbeln. Als stünden wir unter Strom.

      Sachte legte er seine muskulösen Arme um meine Taille und nahm die ledernen Zügel in die Hände. Freudiges Kribbeln überzog meine hochsensiblen Sinne. Lorca so nahe zu sein, lenkte mich auf eine gute Art und Weise von der einschüchternden Realität ab. Es zeigte mir, dass trotz der nicht enden wollenden Hölle immer ein Funken Glück und Hoffnung zu finden war. Man musste nur daran festhalten. Darum kämpfen.

      Onkel Tamo ritt gemeinsam mit Mira voraus, während meine Schwester mit ihrem nie lachenden Reitpartner das konzentrierte Schlusslicht bildete. Es war ein langsames Aus-dem-Versteck-kriechen. Etliche Male hob Tamo seinen rechten Arm mit einem Tempo, dass er damit jeden seine Nahkampfgegner k.o. geschlagen hätte. Daraufhin hielten wir immer gespannt die Luft an und lauschten nach auffälligen Geräuschen.

      Selbst als wir die stachelige Dornenhecke, oder besser gesagt das gemeingefährliche Dornenfeld, verlassen hatten, ging es nicht recht viel schneller voran. Tamo ließ sich Zeit. Nur warum? Ich dachte, wir hätten noch einen langen Weg vor uns und hatte er nicht vorhin gemeint, dass wir noch in diese wolkenverhangene Nacht in den Tiefen der Erde verschwinden wollten? Noch dazu, wie sollte ein solcher Eingang leicht zugänglich und gleichzeitig unauffällig versteckt für Unwissende und Suchende sein? Egal, wie gut etwas verborgen war, die Wahrscheinlichkeit, dass trotzdem jemand darüber stolpern würde, war dennoch vorhanden.

      Ein schriller Pfiff ließ mich hochschrecken. Wir waren nun an den ungeschützteren Waldrand gekommen. Das offenliegende Weideland breitete sich wie eine unheilvolle Masse vor uns aus. Dort würden wir leichte Beute für jeden unserer Gegner sein. Doch auch unsere tödlichen Verfolger würden nicht lange unbemerkt bleiben.

      Verwirrt beobachtete ich, wie Tamo und Suna sich mit wilden Gesten und herumwerfenden Armen unterhielten. Es sah mehr nach einem stummen Schauspiel für Kleinkinder aus. Einem unwichtigen Spiel. Doch ich ahnte schon, dass es sich hierbei um viel Wichtigeres handelte. Warum sonst würden sie sich nicht trauen, die Diskussion laut zu führen? Wir hatten also Gesellschaft. Doch woher wussten sie das?

      Mit zusammengekniffenen Augen scannte ich die umliegende Umgebung mit all ihren heimtückischen Schatten ab, doch ich konnte keine nahende Bedrohung finden. Nichts deutete auf feindliche Soldaten hin. Kein Schaben von Hufen, kein leises Pfeifen, keine zischenden Befehle, keine bewegenden Schatten. Alles war ruhig. Nicht auffallend ruhig, so als würde die Welt die Luft anhalten für das, was geschehen würde. Nein, es war einfach friedlich.

      Melodisches Vogelgezwitscher, trockene Blätter raschelten dort, wo sich ein kleines graues Mäuschen zu verstecken versuchte. Sogar ein rotbraunes Eichhörnchen wagte sich schüchtern den nächsten moosbewachsenen Baumstamm herunter. Schnuppernd nahm es unsere starke Präsenz wahr, stufte uns aber als unbedrohlich ein und wandte sich nun seiner Futtersuche zu.

      Vorsichtig stupste ich Lorca mit meinem knochigen Ellbogen in die Seite. Sofort hatte ich seine bedingungslose Aufmerksamkeit. Sogar aus dem Augenwinkel konnte ich die Sorge in seinen funkelnden Augen nicht ignorieren. Irgendetwas stimmte nicht und ich wollte nun endlich auch eingeweiht werden.

      „Was ist los?“, formte ich lautlos mit meinen Lippen. Ich hatte schon die Befürchtung, dass er es nicht verstehen würde. Schließlich hatte ich keine Ahnung, wie gut er sich im Lippenlesen schlagen würde. Lorca rückte noch näher an mich heran, was mir schon als ein Ding der Unmöglichkeit erschien. Zwischen uns war definitiv kein Platz mehr gewesen.

      „Suna spürt fremde Essenzen auf uns zukommen. Schnell. Wahrscheinlich sind es König Kans Gul.“ Während er sprach, berührten seine weichen Lippen meine empfindliche Ohrmuschel. Ich konnte mich kaum auf seine lautlosen Worte konzentrieren, so sehr lenkte mich seine Nähe vom Hier und Jetzt ab. Ich fühlte, wie sich meine letzten Gehirnzellen verabschiedeten und zu einer trüben Brühe verwandelten.

      Ungünstig. Sehr ungünstig. Reiß dich zusammen. Warum mussten meine Hormone auch nur eine solche Gewalt über meinen menschlichen Körper haben? Ich sollte mich konzentrieren. Jetzt.

      „Was meinst du mit ‚sie spürt Essenzen‘?“ Angestrengt versuchte ich, meine piepsige Stimme so leise wie möglich zu halten. Es schien mir äußerst unpassend, unnötig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Schließlich war ich so oder so schon eine schwerwiegende Last in dieser Mission.

      Lorca stieß einen Seufzer aus, worin ich direkt die schwere Last von Verantwortung und Verlusten mitschwingen hörte. „Ich schätze, dass auch du spezielle Fähigkeiten hast. Suna, ich weiß nicht, wie ich das verständlich erklären soll, kann die Lebensenergie von jedem einzelnen Menschen spüren. In diese elektrisch geladenen Ströme eingreifen. Am besten, du fragst sie mal selbst danach. Suna kann das weitaus besser erläutern als ich.“

      Nach und nach sickerte die Bedeutung seiner Worte in meinen Verstand. Einerseits glaubte ich zu verstehen, was mir Lorca erzählen wollte, andererseits fühlte ich mich wie vom Pferd gestoßen und links liegen gelassen. Es machte irgendwie auf seltsame Art und Weise Sinn, andererseits war es meilenweit entfernt von logisch.

      „Was tun wir jetzt?“ Die einzige Frage, die mir gerade nicht zu unkompliziert schien, um sie deutlich in Worte zu fassen.

      „Gute Frage. Das versuchen wir gerade herauszufinden. Leider bietet sich uns hier nicht wirklich ein einladendes Versteck, in dem wir ausharren könnten.“ Schützend legte er seinen linken Arm um meinen Bauch und drückte mich komplett an sich. Die ledernen Zügel umklammerte er beinahe schon krampfhaft. Seine rechte Hand wanderte unaufhaltsam an den abgewetzten Griff seines Schwertes. Lorca würde mich beschützen, das stand außer Frage. Auch die anderen unseres kampfbereiten Trupps würden ihr Leben für das meine geben.

      Doch was konnte ich tun? Ich wollte nicht nur zusehen. Ich wollte ihnen helfen.

      Wildes Geschrei hallte zwischen den blätterlosen Bäumen hervor. Mindestens sieben maskierte Gestalten rasten auf uns zu. Alle bestens bestückt mit den fiesen Schusswaffen aus der Glasscherben Ebene. Gul. Sie sahen genauso aus, wie die, die in den stinkenden Gassen Aroniens Ragnars Leben beendet