2. Kapitel
Reena
Nachdem ich die brennende Prozedur des Wundenreinigens über mich ergehen lassen hatte und mich nun noch mehr wie eine kleine nichtsnutzige Prinzessin fühlte, biss ich nun in das harte Stück Brot, das mir Tamo gereicht hatte. Das Kauen war beinahe ein Ding des Unmöglichen, so ausgetrocknet wie diese Teigmasse bereits war. Von den gewohnten Brötchen keine Spur. Doch wenn ich ehrlich mit mir selbst war, wann hatte ich denn das letzte Mal eine ordentliche königliche Mahlzeit zu mir genommen. Wochen? Monate? Seit wann war ich denn so pingelig?
Dem verfärbten, fallenden Blätterdach nach zu urteilen, müsste es mindestens schon Mitte Herbst sein. Wenn nicht sogar später. Das Schockierende an der ganzen Sache war bloß, dass meine geplatzte Hochzeit im heißen Hochsommer stattgefunden hatte. Immer wieder stahlen sich freundliche braune Augen in mein Sichtfeld. Augen, die mir mehr Geborgenheit versprachen, als mir je zuvor geschenkt worden war. Augen, in die ich mich verlieben hätte können. Nur würden diese wunderschönen Augen nie wieder das Licht der Welt erblicken. Erloschen.
Tief einatmen. Langsam wieder ausatmen. Meine emotionalen Erinnerungen an den beschützerischen Krieger brachten die aufgebauten Mauern um mein schmerzendes Herz immer wieder fast zum Einstürzen. Etwas, das ich mir nicht leisten konnte. Nein, nicht durfte. Ragnar war tot. Damit musste ich mich abfinden.
Das Einzige was mir noch blieb, waren die wenigen schönen Momente, die ich mit ihm geteilt hatte. Die Erinnerung an sein ehrliches Lächeln, an das herausfordernde Funkeln in seinen Augen. Ragnar war nie müde geworden, mich vor nahenden Gefahren zu beschützen. Er hatte von Anfang an gewusst, welche Risiken mein Schutz aufbringen würde.
Ich hätte mir noch mehr Zeit mit diesem wundervollen Menschen gewünscht. Das zeigt wieder einmal, wie sehr man die gemeinsamen Erlebnisse mit geliebten Menschen genießen sollte. Dies stellte sich nur in den letzten Wochen als eine gewisse Herausforderung heraus, da ich durch ständige Todesangst, Hunger und Einsamkeit etwas abgelenkt war.
Missmutig kaute ich weiter angestrengt auf meiner wenig nahrhaften Mahlzeit herum. Ich fühlte mich matt und ausgelaugt. Natürlich war mir klar, dass mein ausgehungerter Körper nach lebenswichtigen Nährstoffen verlangte. Unsere wenigen Optionen waren auch nicht unbedingt vielversprechend. Eine spontane Flucht entsprach eben nicht der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse.
„Hej. Darf ich mich setzen?“ Wieder einmal verlor ich mich in den geheimnisvollen Augen von Lorca. Dem verletzten Krieger, dem ich in den warmen Sommernächten durch meine verbotenen Ausflüge das Leben gerettet hatte. Dem ich wahrscheinlich unbewusst mein Herz geschenkt hatte, nur hatte ich eben nie erwartet, ihm jemals wieder gegenüberzustehen. Mein wild pochendes Herz schien bei seinem kampfbereiten und gleichzeitig so beschützerischen Anblick auszusetzen. Wie konnte das sein? Wie konnten zwei so starke Gefühle für zwei verschiedene Personen parallel überleben? Müsste nicht das eine das andere auslöschen?
Ein kaum sichtbares Nicken war das Einzige, was ich zustande brachte. Da wären wir nun schon bei meinem zweiten innerlichen Konflikt angekommen. Nach den Wochen der grausamen Gefangenschaften, hatte ich mich verändert. Ob zum Guten oder zum Schlechten war schwer zu beurteilen. Hoffentlich mehr zum Positiven.
„Wie geht es dir?“ Eine ehrliche Frage. Innerlich fing ich laut an zu lachen. Dafür gebe es tausende von Antworten. Wie ging es mir wirklich? Einsamkeit fraß mich innerlich auf. Wut, Enttäuschung und Verlust schnürten mir die Kehle zu. Angst, um jeden der sich mit mir aufhielt oder mit mir in irgendeiner Verbindung stand. Panische Angst um meinen geliebten Bruder und meine Mutter. Und da wäre noch die unheimliche Gabe, die tief in meinem blutigen Inneren schlummerte und immer wieder unkontrollierbar an die Oberfläche kam. Flüsternde Stimmen, die durch meine Gedanken schlichen und zu irgendeinem Zeitpunkt zu sprechen begannen.
„Ganz gut, schätze ich.“ Ich traute mich nicht, ihm in die sorgenvollen Augen zu sehen, während ich diese unglaubwürdige Lüge über die Lippen brachte. Grundsätzlich würde ich mich als grottenschlechte Lügnerin bezeichnen, doch dieser morodekische Krieger schien sich noch weniger in die Irre führen zu lassen. Kaum merklich schien die angestaute Anspannung von seinem Körper zu fallen. Glaubte Lorca mir etwa? Erstaunt traute ich mich nun, den morodekischen Krieger von der Seite anzublicken.
„Du brauchst mir nicht die Wahrheit zu sagen, wenn du nicht willst, aber bitte spuck nicht mit Lügen auf mich herab.“ Enttäuschung und Frust. Ich hatte ihn verletzt. Nur fehlte mir die Kraft, diesen Fehler wieder in Ordnung zu bringen.
„Es tut mir leid.“ Mein Kopf drohte zu platzen. Etliche Stimmen in mir drängten mich dazu, mich Lorca zu öffnen. Doch ein weitaus stärkerer Teil von mir sperrte sich gegen dieses gierige Bedürfnis nach Verständnis. Ich war noch nicht bereit, meinen Schmerz zu teilen. Diese Leute, Fremde, sie hatten schon genug zu tun, um sich dann auch noch um die emotionale Lage einer hilflosen Prinzessin zu kümmern.
„Keine Sorge, mich wirst du nicht so schnell wieder los. Genauso wenig wie deine Schwester.“ Mit einem kurzen Nicken deutete er auf Suna hin, die wohl in ihren eigenen Gedanken versunken auf ihrem Brot herumkaute. „Und Onkel Tamo.“ Mein Blick glitt zu dem älteren Krieger, der keineswegs zu unterschätzen war. „Auch wenn wir uns noch nicht so gut kennen und alle Schwächen und Stärken voneinander im Schlaf aufzählen könnten, zählst du trotzdem zur Familie und wir schützen unsere Familie. Koste es, was es wolle.“
Seine aufmerksamen Augen hielten meinen Blick fest. Strichen sanft um meine von den letzten Wochen ausgehungerte Seele. Lorca wieder so neben mir sitzen zu haben, war besser als jeder wundheilender Verband. So gerne würde ich mich darin fallen lassen. Doch das würde unsere weltbewegenden Probleme auch nicht aus dem Weg räumen.
„Danke“, flüsterte ich kaum hörbar.
Bis zu unserem erneuten Aufbruch saßen wir schweigend nebeneinander. Jeder schwebte in seiner eigenen, verwirrenden Blase. Die nun getrockneten Kratzer auf meiner nackten Haut spürte ich kaum mehr. Nur der nagende Hunger schien kein sichtbares Ende zu nehmen.
„Komm.“ Hilfsbereit streckte mir Lorca seine von der Erde schmutzige Hand hin, um mir wie ein echter Gentleman aufzuhelfen. Mutter würde ihn lieben. Er hatte genau das richtige Maß an kriegerhafter Ernsthaftigkeit, menschlicher Fürsorge und liebevoller Einfühlungsgabe. Dankend schloss ich meine zittrigen Finger um seine und ließ mich schwungvoll auf meine Beine ziehen.
„Reena reitet mit mir. Natürlich nur, wenn das für dich in Ordnung geht, Onkel“, schoss es wie aus einem dieser metallenen Schießrohre aus seinem Mund. „Und natürlich muss es auch für dich in Ordnung gehen.“ Lorca traute sich kaum, mir in die Augen zu sehen, so sehr hatte er vor meiner Entscheidung Angst. Oder eher wollte er keine Abfuhr bekommen. Verletzung seines Stolzes oder so.
Mein noch vor Trauer verkrampftes Herz führte einen galloppähnlichen Marathon auf und drohte, mir jede einzelne Rippe qualvoll zu zerbersten. Hoffnungsvoll wandte ich mich Tamo zu, doch dieser konzentrierte sich vollends auf das befestigte Sattelzeug auf seinem zufrieden schnaufenden Pferd. Nur der breite Grinser auf seinen aufgeplatzten Lippen zeigte, dass er nichts dagegen auszusetzen hatte.
Erfreut begannen auch meinen trockenen Lippen, sich zu einem echten Lächeln zu formen. Es fühlte sich gut an. In all den dunklen Tagen, in denen man nicht mal wusste, ob es gerade Tag oder Nacht war, hatte ich schon beinahe verlernt, glücklich zu sein.
„Ja, ich würde gerne mit dir reiten.“
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich Lorca sichtlich entspannte. Er hatte nicht mit einer Zustimmung gerechnet. Nur warum nicht? Konnte er nicht sehen, dass es, seit wir uns das erste Mal außerhalb der Mauern von Onayas gegenüber gestanden hatten, um mich geschehen war? Unser herzzerreißender Abschied damals konnte nicht einfach spurlos an ihm vorbeigegangen sein.
„Gut. Mira, dann reitest du nun mit mir. Macht euch fertig, wir haben heute Nacht noch eine lange Strecke vor uns.“ Zustimmendes Gemurmel war Antwort auf