Schweigend laufen wir nebeneinander her, zurück durch die schmalen Gassen, durch die wir vor ein paar Minuten noch in wilder Verfolgungsjagd gerannt sind. Ihr hüftlanger Pferdeschwanz wippt emsig im Takt ihrer federnden Schritte hin und her. Fast erscheint es mir, als würde sie schweben. Ein leichtes Schmunzeln huscht über mein Gesicht, als ich sie so beobachte. Sie erinnert mich an ein kleines Kind, dass gerade auf dem Weg zu einem Spielplatz ist. Ausgelassen, fröhlich und sorglos. Was würde ich dafür geben, ihr alle Ängste für immer fernzuhalten. Ich bin froh, dass sie ein leichtes Gemüt hat, trotz der ganzen Umstände und den alltäglichen Situationen, denen wir uns oft stellen müssen. Wieder wundert es mich, dass wir charakterlich so verschieden sind, obwohl wir eineiige Zwillingsschwestern sind. Beide haben wir glatte, hüftlange Haare, die wir Aubergine gefärbt haben, da wir diese Farbe lieben. Hier besteht der Unterschied allerdings darin, dass meine Schwester sich die Zeit nimmt und immer süße Zöpfe und Frisuren kreiert. Ich bin in diesem Gebiet nicht besonders geduldig und nicht wirklich angetan davon. Ihr steht es wirklich super, es passt zu ihr. Ich fühle mich damit nicht wohl, weswegen ich meine Haare meistens offen trage oder einfach zusammenbinde. Wir haben beide die Augenfarbe unserer Mutter in einem dunklen Saphirblau. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich Joy mit einer kleinen Elfe vergleiche. Sie ist zierlich, quirlig und quietschvergnügt. Sie passt so gar nicht in diese raue, von Hass zerfressene Welt … Als hätte sich ihre reine Seele hierher verirrt. Ist es denn ein Wunder, dass ich immer das Gefühl habe, sie vor allem Übel beschützen zu müssen? Vielleicht wird sich dies ändern, wenn wir erst einmal unsere Prüfung bestanden haben und nicht mehr nur Anwärterinnen sind, aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Und wenn alle unserer Patrouillen so erfolglos wie die heutige verlaufen …
„Was guckst du denn wieder so unglücklich drein? Ist es immer noch wegen ihm?“
Meine Schwester versetzt mir einen lockeren Schubs in die Seite und zieht eine Grimasse, die mich aufmuntern soll. Ich seufze. Egal wie sehr ich mich auch versuche zu verstellen, sie liest aus mir wie aus einem offenen Buch. Ich kann ihr einfach nichts vormachen. Alle Versuche sind zwecklos.
„Ja, es wurmt mich eben. Wir waren so knapp davor und ich war mir sicher, dass wir ihn diesmal schnappen würden. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall, na ja … Ich bin enttäuscht, aber du hast recht. Das nächste Mal kommt bestimmt.“
Ihre Grimasse verwandelt sich in ein breites Grinsen und ihre blauen Augen, die gleichen wie meine, funkeln mir frech entgegen.
„Natürlich habe ich recht, ist ja schließlich immer so! Oder hast du etwas anderes erwartet?“
Scherzhaft verziehe ich das Gesicht und schmolle gespielt bis wir beide anfangen müssen zu lachen. Was würde ich nur ohne sie tun? Sie ist mein Sonnenschein, die Rose auf dem kalten Asphalt, der Grund, warum ich es immer wieder schaffe, aufzustehen und nicht aufzugeben.
„Die arme Frau! Drew warte mal, ich …“, setzt Joy plötzlich mitleidig an und läuft mit schnellen Schritten zur gegenüberliegenden Straßenecke, wo eine alte Frau, eingemummelt in fleckigen Stofffetzen, gegen die grauen Hausmauern lehnend sitzt und apathisch vor sich hinstarrt. Ihre Haut ist unnatürlich blass und faltig wie ein zu oft gefaltetes Blatt Papier. Vorsichtig kniet sich meine Zwillingsschwester der gekrümmten Fremden gegenüber und spricht sie besorgt an. Ich bleibe stehen und beobachte gedankenverloren die Szene. Wie aufmerksam doch Joy ist. Ich selbst habe die Frau nicht wahrgenommen und wäre an ihr vorbeigegangen. Doch selbst wenn ich sie gesehen hätte, muss ich gestehen, dass ich, ohne ein Wort an sie zu verlieren, meinen Weg fortgesetzt hätte. Zwar tun mir die Leute leid, die vom Schicksal derart hart bestraft werden, allerdings kann man nichts groß für sie tun. Ich selbst bin nicht besonders gut in Reden und Trost spenden, das liegt mir einfach nicht. Stattdessen versuche ich, der Menschheit zu helfen, indem ich die Erde von den Dämonen säubere, die sich hier wie Parasiten ausgebreitet haben. Mehr kann ich nicht tun, so gern ich es auch möchte.
Tatsächlich schafft es meine Schwester zu der alten Frau durchzudringen. Ich sehe, wie sich die beiden unterhalten und Joy ihr teilnehmend über den Oberarm streicht. Die Unterlippe der fremden Frau fängt an zu zittern und Tränen laufen über ihr faltiges Gesicht. Ich fokussiere meine Schwester, ihr einfühlsamer und barmherziger Blick, ihre feinen und jetzt angespannten Gesichtszüge, welche vom grauen Schleier der Besorgnis getrübt werden. Dies sind die Situationen, die an ihr nagen und sie mitnehmen. Sie hat es mir nie gesagt, doch ich weiß es. Es ist nicht zu übersehen. Schon immer. Ein schmerzhafter Stich durchfährt ein zweites Mal in dieser Nacht meinen Körper und langsam schlendere ich auf die beiden zu.
„Joy, was hat sie?“, flüstere ich fragend meiner Schwester mit belegter Stimme zu.
„Ich glaube, sie ist krank und braucht Hilfe“, antwortet meine Schwester und streicht der Frau über die weiße Wange. Ich betrachte mir die Fremde noch einen Moment, über deren schwarzen Augen sich ein leichtes Tuch des nahenden Todes gelegt zu haben scheint und nicke dann zustimmend.
„Lass sie uns ins Krankenhaus bringen. Sie sollte nicht hier draußen sein.“
„Was ist mit den anfallenden Kosten für die Aufnahme?“, hakt Joy zaghaft nach, doch ich kann ihr ansehen, dass sie meine Antwort bereits kennt. Dennoch bleibe ich ihr diese nicht schuldig.
„Die Gebühren übernehmen wir.“
„Wenn die Priester uns nach dem Grund der Ausgaben fragen?“
Meine Schwester blickt zögernd zu mir auf, doch ich winke flüchtig ab.
„Mir wird schon eine passende Ausrede oder Erklärung einfallen.“
Joy nickt und ich sehe die Erleichterung, die meine Worte ihr geschenkt haben, in ihren glänzenden Augen aufblitzen wie kleine, wertvolle Diamanten. Gemeinsam helfen wir der zerbrechlichen Frau auf und machen uns auf den Weg in das nächstgelegene Krankenhaus. Es wird nicht gern gesehen, wenn wir Anwärter das Geld rausschmeißen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass meine Schwester und ich mit einem Verstoß dieser Art auffallen. Höchstwahrscheinlich wird es großen Ärger geben und ich werde versuchen, diesen auf mich zu nehmen. Aber was soll ich anderes tun? Ich kann meine Schwester nun mal nicht so traurig sehen, es zerreißt mir einfach das Herz und außerdem bin ich selbst der Meinung, dass kein Mensch so einsam und verlassen, mit leerem Magen, auf dieser dreckigen Straße, umhüllt vom Gestank des Verfalls, elendig sterben sollte. Das wäre einfach nicht fair.
Kapitel 4
Mick:
Ausgelaugt von der schlaflosen Nacht schließe ich meine Haustür ab. Es dauert eine Weile, bis ich das Türschloss mit meinem Schlüssel treffe und mich danach die Treppen vorsichtig nach unten taste. Die kühle Morgenluft schlägt mir wuchtig entgegen. Benebelt bleibe ich kurz stehen, bis sich meine Gedanken wieder klären und mein Körper das tut, was er tun soll. Es ist noch dämmrig, doch bis ich an meinem Arbeitsplatz ankomme, wird die Sonne schon aufgegangen sein. Ich atme tief durch, während ich die kahlen Straßen zur Haltestelle entlanglaufe und die frische Luft sich auf meiner Haut niederlässt und diese unter regem Prickeln zum Leben erweckt. Langsam beginnt die Müdigkeit aus meinen Körper zu weichen und gibt diesen frei. Meine Gedanken scheinen wirr und unkontrolliert umherzuschwirren, bis einer von ihnen, der mich die ganze Woche heimgesucht hat, es schließlich schafft, sich in den Vordergrund zu stellen und alle anderen beiseitezuschieben.
Wie es dem schwarzen Kater wohl geht? Ob er genug zu fressen hat? Hoffentlich hat er einen Unterschlupf gefunden, in dem er schlafen und sich ausruhen kann …
Ich seufze auf. Die Begegnung mit dem Vierbeiner ist nun schon sieben Tage her und er ist kein einziges Mal erneut vorbeigekommen. Ich weiß, dass es blöd von mir ist, doch ich stelle jeden Abend eine Schale mit frischer Milch hin, nur für den Fall, dass er kurz hereinplatzt und etwas trinken möchte. Die ersten paar Tage nach seinem Besuch war ich sogar extra länger aufgeblieben und habe auf ihn gewartet – vergebens. Ich bin doch einfach nur zu bescheuert. Wenn meine Arbeitskollegen