Kapitel 5
Vierundzwanzig Stunden später betrat Melody in Begleitung ihrer Agentin Maisie Swanbeck das Gebäude, in dem die ›A Sunny Place‹-Show gedreht wurde. Als sie durch die Korridore schritt, die seit ihrem letzten Besuch zwar gleichgeblieben waren, bemerkte sie all die kleinen Änderungen, die man an den Büros und im Atelier vorgenommen hatte, um sie moderner, vor allem aber auf dem neuesten Stand zu halten.
Sie erinnerte sich an die Sitzungsräume, Hallen, Ateliers und anderen Räume, in denen sie schon als Kind gespielt hatte. Die heutige Besprechung würde im großen Konferenzraum im zweiten Stock stattfinden. Er war der imposanteste der insgesamt drei Besprechungszimmer, mit riesigen Glasfenstern, die einen Blick auf das Hauptstudio boten, in dem zumeist gedreht wurde. Sie war nur noch wenige Yards von dessen Tür entfernt, als diese plötzlich aufschwang.
Melody erblickte ihren Vater in einem grauen, dreiteiligen Anzug, nur wenig älter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sein früher einmal blauschwarzes Haar war silbriggrau geworden und sein Gesicht zeigte genau die Art Charakter, der ihn für die weiblichen Zuschauer der Show so anziehend machte. Er war noch immer sehr attraktiv, und sie vermutete, dass er regelmäßig im Fitness-Studio auf einer anderen Etage des Gebäudes trainierte. Sie registrierte das Zögern in seinen tiefbraunen Augen, so als wäre er sich nicht ganz sicher, was er ihr, seiner eigenen Tochter in diesem Augenblick sagen sollte.
»Hallo, Dad, gut siehst du aus«, übernahm sie daher die ersten Worte, wobei sie ihre eigenen Gefühle herunterschluckte und ihm die rechte Hand entgegenstreckte. Sie fühlte sich durch die Unentschlossenheit und das Zögern in seinem Blick bestätigt, bevor er es durch ein sanftes Lächeln überdecken konnte und die von ihr angebotene Hand nahm.
Langsam ließ Owen Tyrrell die Hand seiner jüngsten Tochter los.
Dann folgte sie seinem starren Blick, der auf ihre nun gefalteten Hände gerichtet war, die von weichen Wildlederhandschuhen bedeckt waren, die in Farbe und Material perfekt zu dem jägergrünen Zweiteiler passten, der ihre Figur umschmeichelte und glänzend zur Geltung brachte. Sie hatte ihn sich vor einiger Zeit von einem Designer in Italien maßschneidern lassen, was bekanntermaßen nicht gerade preiswert war.
»Du siehst wunderbar aus, Melody«, murmelte er halblaut. »Ich freue mich sehr, dass du unser Angebot angenommen hast …« Er stockte ungeschickt in seinen Worten und konnte den Ausdruck der Erleichterung nicht verbergen, als er sanft zur Seite geschoben wurde und seine achtundvierzigjährige Frau die Situation übernahm.
Melody hielt ihre kühle Fassade aufrecht, bis ihre Mutter sie herzlich umarmte.
»Melody, ich weiß, dass in der Vergangenheit viele Fehler begangen wurden, und ich kann nur hoffen, ja beten, dass du diese Fehler verzeihen kannst, Melody«, flüsterte Michelle ihr leise zu, während sie sie an sich gedrückt hielt. »Ich hoffe von ganzem Herzen, dass wir wieder eine Familie werden können.« Sie machte eine Pause und strich ihr sanft über die Wange. »Bitte glaub' mir das. Selbst wenn du Nein sagst und uns nicht helfen magst, möchte ich den Kontakt zu dir nicht verlieren.« Dann trat sie zwei Schritte zurück und sagte mit lauterer Stimme. »Hallo, Melody! Hübsch siehst du aus.« Sie lächelte. »Ich kann da tatsächlich noch immer etwas von der kalifornischen Sonne in deinem Gesicht erkennen. Ich hoffe, dass du die Monate in New York genossen hast.«
Melody sah, wie Michelle sich ihrer Agentin zuwandte und dieser zur Begrüßung die Hand anbot.
»Es ist schön, Sie wiederzusehen, Maisie. Ich verstehe, dass Sie in den letzten Jahren zum Jetsetter geworden sind ... Stimmt es, dass Sie inzwischen zahlreiche Kunden an beiden Küsten und sogar in Europa haben?«
»Ja, Michelle, das stimmt«, erwiderte Maisie. »Und das verdanke ich alles Melody. Sie hat mich auf ihrem Zug des Erfolgs und Ruhm mitgezogen. Dank ihr habe ich gerade Rafail Esposito und Gabriela Romano unter Vertrag nehmen können.« Sie lächelte Melody an, als sie die beiden am schnellsten, aufstrebenden Stars der europäischen Filmindustrie erwähnte. »Melody hat sie mir vorgestellt und von den beiden erfahren, dass sie nach jemandem Ausschau halten, der ihnen hilft, ihre Karriere in den Staaten und Europa zu managen.«
»Da kann man nur hoffen, dass sie dich nicht feuern, wenn du ihre stürmische Affäre beendest, die sie gerade ausleben, Maisie!«, bemerkte eine Stimme aus dem Hintergrund.
Melody und Maisie drehten sich um und sahen Leslie auf sich zukommen.
Leslie Tyrrell hatte das attraktive Aussehen seines Vaters, aber es schien, als hätte er nichts von seiner Boshaftigkeit verloren, die sich erst nach seiner Heirat entwickelt hatte.
Melody präsentierte ihrem Bruder ihre überlegenen schauspielerischen Fähigkeiten und lachte fröhlich, als sie Maisie freundschaftlich einen Arm um die Hüfte legte und für sie Partei ergriff. »Oh, es gibt keinen Grund, sich um Maisie zu sorgen, Leslie! Sie kann es sich mittlerweile leisten reihenweise Leute abzulehnen, weil sie so gut ausgelastet ist … Und nur, um dich in ein kleines Geheimnis einzuweihen …« Sie zog ihre Agentin noch enger an sich und lächelte verschwörerisch. »Sie hat sie mit dem Vertrag derart geknebelt, dass Rafail und Gabriela nicht in der Lage sein werden, sich zu trennen.« Sie legte eine theatralische Pause ein, ehe sie eine Information aufdeckte, für die viele Journalisten getötet hätten. »Nur falls du es nicht weißt: Die beiden sind seit fast zehn Jahren verheiratet und haben mehrere niedliche Kinder adoptiert. Ich habe letztes Jahr einige Wochen auf ihrem Weingut in Frankreich verbracht und trotz vier Kindern und einer Vielzahl an Hunden und Katzen, war es der friedlichste Urlaub, den ich seit Jahren hatte.«
Leslie lächelte schmal, als seine Frau Geena, die immer noch extrem schlank und anmutig war, sich ihnen anschloss. Ihr langes, dunkelbraunes Haar war am Hinterkopf zu einem schicken französischen Zopf hochgesteckt.
Melody wusste, dass die beiden keine Kinder hatten und auch warum. Mehrfach hatte Geena erklärt, dass sie solange nur irgend möglich ihre Figur behalten wollte, damit sie weiter schauspielern und deutlich jünger aussehen konnte, als sie es tatsächlich war. Auch war es offensichtlich, dass ihr feines Seidenkleid niemals neugierigen und oft schmutzigen kleinen Händen standhalten würde. Sie spürte eine wohlige Wärme, als sie sich an ihre Freunde und deren Kinder erinnerte, die sie in ihren Herzen und ihrem Zuhause willkommen geheißen hatten. Und sie lächelte still in sich hinein, wenn sie daran dachte, wie sehr es ihr gefiel, wenn sie von den Kleinen mit ›Tante Melody‹ gerufen wurde. Wie aus dem Nichts kam in ihr der Gedanke auf, Ryan zu einem Besuch in Frankreich zu verleiten und seine Reaktion auf die vier Kinder zu beobachten.
»Wenn ich mich nicht irre, ist das ein Originaldesign von ›Valentino‹, nicht wahr?«, bemerkte Geena und riss Melody aus ihrer Träumerei.
Melody gewahrte den neidischen Blick in den Augen ihrer Schwägerin, den diese nicht unterdrücken konnte. ›Valentino‹ war so exklusiv, dass es sehr schwierig war, ihn überhaupt für sich zu gewinnen. Die alte Feindseligkeit ist also immer noch da, dachte Melody bei sich und erinnerte sich daran, wie Geena sie schon früher ohne Gnade gepiesackt hatte. Nein, Geena ist weder die Zeit noch die Mühe wert, entschied sie im Stillen. »Das stimmt, auch wenn es nicht wichtig ist, Geena!«, entgegnete sie. »Ich habe ihn getroffen, während ich an diesem Film zum Thema Aids arbeitete, wie die Krankheit das Leben vieler Menschen zerstört, ja selbst das des Umfelds, das nicht erkrankt ist. Einer seiner engen Mitarbeiter hatte das Buch dazu geschrieben, auf dem der Film basiert, und sie waren oft in dem Hospiz, wo wir einige Szenen abdrehten.« Sie wandte sich an Maisie, die ihn ebenfalls am Set getroffen hatte. »Ich habe ihn erst neulich besucht, und er hatte das Gefühl, dass es Matteo endlich etwas besser geht.« Sie lächelte ihre Freundin an. »Aber gut, genug davon … Glaubst du, wir könnten zur eigentlichen Angelegenheit zurückkommen?« Für einen kurzen Moment war sie geneigt zu erklären, dass sie im weiteren Verlauf des Tages noch andere Verpflichtungen hatte, auch wenn es nicht stimmte. Doch dann hielt sie sich zurück und beschloss, dass es an der Zeit war, das kindliche Benehmen abzulegen – ganz gleich was nun gesagt wurde oder wer es