»Ich glaube, sie ist eine Angehörige eines gewissen Lebjadkin,« meldete sich schließlich ein gutmütiger Mensch mit einer Antwort auf Warwara Petrownas Frage, nämlich unser achtungswerter und von vielen hochgeschätzter Kaufmann Andrejew mit der Brille, dem grauen Barte, der russischen Tracht und dem in der Hand gehaltenen Zylinderhute. »Sie wohnen im Filippowschen Hause in der Bogojawlenskaja-Straße.«
»Lebjadkin? Im Filippowschen Hause? Davon habe ich schon etwas gehört ... Ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch; aber wer ist dieser Lebjadkin?«
»Er nennt sich Hauptmann und ist, man muß sagen, ein unsolider Mensch. Dies aber ist jedenfalls seine Schwester. Ich denke mir, daß sie jetzt der Aufsicht entlaufen ist,« fügte Nikon Semjonowitsch leiser hinzu und blickte Warwara Petrowna bedeutsam an.
»Ich verstehe Sie, ich danke Ihnen, Nikon Semjonowitsch. Sie sind Fräulein Lebjadkina, liebes Kind?«
»Nein, ich heiße nicht Lebjadkina.«
»Aber vielleicht ist Lebjadkin Ihr Bruder?«
»Ja, Lebjadkin ist mein Bruder.«
»Also, da werde ich es so machen: ich werde Sie jetzt mit mir in meine Wohnung mitnehmen, liebes Kind, und von da sollen Sie zu Ihrer Familie gebracht werden. Wollen Sie mit mir mitfahren?«
»Ach ja, gern!« antwortete jene und klatschte in die Hände.
»Tante, Tante! Nehmen Sie mich auch mit!« rief Lisaweta Nikolajewna.
Ich bemerke, daß Lisaweta Nikolajewna mit der Frau Gouverneur zusammen der Messe beigewohnt hatte, während Praskowja Iwanowna unterdessen auf ärztliche Vorschrift spazieren gefahren war und zu ihrer Zerstreuung Mawriki Nikolajewitsch mitgenommen hatte. Nun verließ Lisa auf einmal die Frau Gouverneur und trat eilig zu Warwara Petrowna heran.
»Liebes Kind, du weißt, daß ich mich immer über das Zusammensein mit dir freue; aber was wird deine Mutter sagen?« begann Warwara Petrowna würdevoll, stutzte aber plötzlich, da sie Lisas ungewöhnliche Aufregung bemerkte.
»Tante, Tante, ich muß jetzt unter allen Umständen mit Ihnen mit,« bat Lisa inständig und küßte Warwara Petrowna.
»Mais qu'avez-vous donc, Lise?« fragte die Frau Gouverneur erstaunt und nachdrücklich.
»Ach, verzeihen Sie, mein Täubchen, chère cousine, ich muß zu meiner Tante!« erwiderte Lisa, indem sie sich schnell zu ihrer unangenehm überraschten chère cousine umwendete und sie zweimal küßte. »Und sagen Sie doch zu Mama, sie möchte gleich mit dem Wagen zur Tante fahren, um mich abzuholen; Mama wollte ganz bestimmt, ganz bestimmt mit herankommen; sie hat es vorhin selbst gesagt; ich habe vergessen, es Ihnen mitzuteilen,« sagte Lisa eilig. »Pardon! Seien Sie nicht böse, Julie, chère ... cousine ... Tante, ich bin bereit!«
»Wenn Sie mich nicht mitnehmen, Tante, so laufe ich hinter Ihrem Wagen her und schreie Ihnen nach,« flüsterte sie schnell und in Verzweiflung dicht an Warwara Petrownas Ohr.
Es war nur gut, daß es niemand gehört hatte. Warwara Petrowna trat sogar einen Schritt zurück und sah das wahnsinnige Mädchen mit einem durchdringenden Blicke an. Dieser Blick entschied alles: sie beschloß, Lisa unter allen Umständen mitzunehmen.
»Dem muß ein Ende gemacht werden!« entfuhr es ihr leise. »Nun gut, ich werde dich mit Vergnügen mitnehmen, Lisa,« fügte sie sogleich laut hinzu, »selbstverständlich nur, wenn Julija Michailowna einwilligt, dich fortzulassen,« wandte sie sich mit offener Miene und natürlicher Würde unmittelbar an die Frau Gouverneur.
»Oh, gewiß; ich will Sie dieses Vergnügens nicht berauben, um so weniger, da ich selbst ...« begann Julija Michailowna auf einmal mit erstaunlicher Liebenswürdigkeit zu plaudern, »da ich selbst recht wohl weiß, was für ein phantastisches, eigenwilliges Köpfchen wir auf unseren Schultern haben.« Hier lächelte Julija Michailowna bezaubernd.
»Ich bin Ihnen außerordentlich dankbar,« versetzte Warwara Petrowna mit einer höflichen, würdevollen Verbeugung.
»Und es ist mir um so angenehmer,« fuhr Julija Michailowna in ihrem Geplauder fort, die nun schon ganz entzückt war und vor angenehmer Erregung errötete, »da, abgesehen von dem Vergnügen, mit Ihnen zusammen zu sein, Lisa sich jetzt auch durch ein so schönes, durch ein, man kann sagen, so edles Gefühl hinreißen läßt ... durch das Mitleid ...« (hier warf sie einen Blick auf die »Unglückliche«) »... und ... und gerade in der Vorhalle des Gotteshauses ...«
»Eine solche Anschauung macht Ihnen Ehre,« versetzte Warwara Petrowna in würdigem, beifälligem Tone.
Julija Michailowna streckte ihr eifrig die Hand hin, und Warwara Petrowna berührte dieselbe sehr bereitwillig mit ihren Fingern. Der allgemeine Eindruck war ein sehr guter; die Gesichter mehrerer Anwesenden strahlten vor Vergnügen, und es erschien auf ihnen ein süßes, schmeichlerisches Lächeln.
Kurz, es wurde der ganzen Stadt auf einmal klar, daß nicht etwa Julija Michailowna durch Unterlassung einer Visite bisher eine Geringschätzung gegen Warwara Petrowna an den Tag gelegt, sondern umgekehrt diese letztere »die Frau Gouverneur in einem gewissen Abstande von sich gehalten habe, während dieselbe doch vielleicht sogar zu Fuß zu ihr gelaufen wäre, um ihr einen Besuch zu machen, wenn sie nur überzeugt gewesen wäre, daß Warwara Petrowna ihr nicht die Tür weisen werde«. Warwara Petrownas Ansehen hatte sich außerordentlich gehoben.
»Steigen Sie ein, liebes Kind!« sagte Warwara Petrowna zu Mademoiselle Lebjadkina und wies auf den Wagen, der vorgefahren war.
Die »Unglückliche« lief fröhlich zu dem Wagenschlage hin, wo ihr der Lakai beim Einsteigen behilflich war.
»Wie? Sie hinken?« rief Warwara Petrowna ganz erschrocken und wurde blaß. Alle bemerkten dies damals, ohne es zu verstehen ...
Die Equipage rollte davon. Warwara Petrownas Haus lag nicht weit vom Dom. Lisa erzählte mir später, Fräulein Lebjadkina habe während der drei Minuten dauernden Fahrt fortwährend hysterisch gelacht und Warwara Petrowna habe »wie in einem magnetischen Schlafe« dagesessen; das war Lisas eigener Ausdruck.
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