»Es ist dir wohl langweilig geworden, so allein in deinem Zimmer umherzuwandern?« sagte sie lachend, wobei zwei Reihen wunderschöner Zähne sichtbar wurden.
»Ja, es wurde mir langweilig, und dann wollte ich dich auch gern besuchen.«
Schatow rückte eine Bank an den Tisch, setzte sich hin und forderte mich auf, neben ihm Platz zu nehmen.
»Ein Gespräch habe ich immer gern; aber du kommst mir doch lächerlich vor, lieber Schatow; du siehst ja aus wie ein Mönch. Wann hast du dich denn zuletzt gekämmt? Komm, ich werde dich wieder einmal kämmen!« Mit diesen Worten zog sie ein Kämmchen aus der Tasche. »Seit ich dich zum letzten Male gekämmt habe, hast du wohl dein Haar nicht mehr angerührt?«
»Ich habe ja keinen Kamm!« versetzte Schatow lachend.
»Wirklich nicht? Dann werde ich dir meinen schenken; nicht diesen hier, sondern einen andern; aber du mußt mich daran erinnern.«
Mit dem ernstesten Gesichte machte sie sich daran, ihn zu kämmen, zog ihm sogar einen Scheitel auf der Seite, bog sich ein wenig zurück, um zu sehen, ob alles gut gelungen war, und steckte den Kamm wieder in die Tasche.
»Weißt du was, lieber Schatow,« sagte sie, den Kopf hin und her wiegend, »du bist doch sonst ein vernünftiger Mensch, aber doch langweilst du dich. Ich muß mich wundern, wenn ich euch alle so ansehe: ich verstehe gar nicht, wie sich die Leute langweilen können. Sehnsucht ist nicht langweilig. Ich bin ganz vergnügt.«
»Auch wenn dein Bruder da ist?«
»Du meinst Lebjadkin? Der ist mein Bedienter. Es ist mir ganz gleich, ob er da ist oder nicht. Wenn ich ihm befehle: ›Lebjadkin, bring Wasser! Lebjadkin, gib die Schuhe her!‹ dann läuft er nur so; manchmal versündige ich mich sogar und lache über ihn.«
»Und das ist wirklich genau so,« sagte Schatow wieder laut und ungeniert, indem er sich zu mir wandte. »Sie behandelt ihn ganz wie einen Bedienten; ich habe selbst gehört, wie sie ihn anherrschte: ›Lebjadkin, bring Wasser!‹ und dazu lachte; der Unterschied besteht nur darin, daß er nicht nach Wasser läuft, sondern sie dafür schlägt; aber sie fürchtet sich gar nicht vor ihm. Sie hat beinahe täglich eine Art von Nervenanfällen, die ihr das Gedächtnis benehmen, so daß sie nach ihnen alles vergißt, was soeben geschehen ist, und immer die Zeiten verwechselt. Sie denken wohl, daß sie sich daran erinnert, wie wir hereingekommen sind? Vielleicht tut sie es; gewiß aber hat sie alles schon in ihrer Weise umgestaltet und hält uns jetzt für ganz andere Menschen, obwohl sie sich erinnert, daß ich der liebe Schatow bin. Daß ich laut spreche, tut nichts; wenn man nicht mit ihr spricht, hört sie sofort auf zuzuhören und überläßt sich ihren Träumereien, in denen sie ganz versinkt. Sie ist eine erstaunliche Träumerin; sie sitzt manchmal acht Stunden, ja einen ganzen Tag lang auf einem Fleck. Da liegt nun eine Semmel; sie hat vielleicht seit dem Morgen nur einmal davon abgebissen und wird sie erst morgen zu Ende essen. Da! Jetzt hat sie angefangen, sich Karten zu legen ...«
»Ich lege und lege, lieber Schatow; aber es kommt nicht ordentlich heraus,« fiel auf einmal Marja Timofejewna ein, die die letzten Worte gehört hatte; und ohne hinzusehen, streckte sie die linke Hand nach der Semmel aus; wahrscheinlich hatte sie auch gehört, daß diese erwähnt wurde.
Endlich erfaßte sie die Semmel; aber nachdem sie sie eine Weile in der linken Hand gehalten hatte, ließ sie sich durch das neu in Gang kommende Gespräch fesseln und legte sie, ohne abgebissen zu haben, wieder auf den Tisch; sie war sich dieser Handlungen gar nicht bewußt geworden.
»Es kommt immer dasselbe heraus: eine Reise, ein böser Mensch, eine Hinterlist jemandes, ein Sterbebett, ein Brief von irgendwoher, eine unerwartete Nachricht, – ich meine, das ist alles Lug und Trug; wie denkst du darüber, lieber Schatow? Wenn die Menschen lügen, warum sollten die Karten nicht auch lügen?« Sie mischte die Karten. »Dasselbe sagte ich auch einmal zu Mutter Praskowja; das war eine sehr achtbare Frau, die kam immer zu mir in meine Zelle gelaufen, um sich ohne Wissen der Mutter Äbtissin Karten legen zu lassen. Und es kamen auch noch andere mit ihr mitgelaufen. Da sagten sie nun ›Ach!‹ und ›Oh!‹ und wiegten die Köpfe hin und her und redeten und schwatzten; aber ich lachte: ›Na, Mutter Praskowja,‹ sagte ich, ›wie werden Sie denn einen Brief bekommen, wenn zwölf Jahre lang keiner angekommen ist?‹ Ihre Tochter hatte der Mann derselben irgendwohin in die Türkei mitgenommen, und es war zwölf Jahre lang nichts von ihr zu hören gewesen. Aber da saß ich am folgenden Tage abends zum Tee bei der Mutter Äbtissin (sie war aus einer fürstlichen Familie), und bei ihr saß auch eine Dame von auswärts, eine große Phantastin, und auch ein Mönch vom Berge Athos, ein sehr komischer Mensch nach meiner Ansicht. Und was meinst du wohl, lieber Schatow? Dieser selbe Mönch hatte an demselben Morgen der Mutter Praskowja aus der Türkei von ihrer Tochter einen Brief gebracht, – siehst du, da ist Karo-Bube, eine unerwartete Nachricht! Also wir tranken da Tee, und der Mönch vom Athos sagte zur Mutter Äbtissin: ›Und am allermeisten, ehrwürdige Mutter Äbtissin, hat Gott Ihr Kloster dadurch gesegnet, daß Sie einen so kostbaren Schatz in seinen Mauern bewahren.‹ ›Was für einen Schatz?‹ fragte die Mutter Äbtissin. ›Die gottwohlgefällige Mutter Lisaweta,‹ antwortete der Mönch. Diese gottwohlgefällige Mutter Lisaweta war in der Umfassungsmauer des Klosters eingemauert, in einem Käfig, der drei Ellen lang und zwei Ellen hoch war, und saß da hinter einem eisernen Gitter schon siebzehn Jahre, Sommer und Winter im bloßen hänfenen Hemde, und stach immer mit einem Strohhalm oder einem Stöckchen in ihr Hemd, in die Leinwand, hinein und redete nichts und kämmte sich nicht und wusch sich nicht, die ganzen siebzehn Jahre lang. Im Winter schob man ihr einen Schafpelz durchs Gitter und alle Tage ein Körbchen mit Brot und einen Krug Wasser. Die Wallfahrer sahen sie an, staunten, seufzten und legten Geld hin. ›Na, ja, ein schöner Schatz,‹ versetzte die Mutter Äbtissin (sie ärgerte sich; denn sie konnte Lisaweta gar nicht leiden); ›Lisaweta sitzt da nur aus Bosheit, nur aus Eigensinn; es ist alles nur Verstellung.‹ Das gefiel mir nicht; ich wollte mich damals selbst einsperren lassen. ›Meiner Ansicht nach‹, sagte ich, ›ist Gott und die Natur ein und dasselbe.‹ Da riefen sie alle wie aus einem Munde: ›Aber so etwas!‹ Die Äbtissin lachte, fing an mit der fremden Dame zu flüstern, rief mich zu sich und streichelte mich, und die Dame schenkte mir ein rosa Band; wenn du willst, werde ich es dir zeigen. Na, und der Mönch hielt mir eine belehrende Rede und sprach so freundlich und ruhig und gewiß auch sehr verständig, und ich saß da und hörte zu. ›Hast du es verstanden?‹ fragte er. ›Nein,‹ antwortete ich, ›ich habe nichts verstanden; lassen Sie mich nur ganz in Ruhe!‹ Seitdem ließen sie mich ganz in Ruhe, lieber Schatow. Aber als ich einmal aus der Kirche kam, da flüsterte mir eine unserer Nonnen, die bei uns Buße tun mußte für ihre Weissagungen, leise zu: ›Was ist die Muttergottes? Was meinst du?‹ ›Die Muttergottes‹, antwortete ich, ›ist die Hoffnung des Menschengeschlechtes.‹ ›Ja,‹ sagte sie, ›die Muttergottes ist die kühle Mutter Erde, und sie schließt für den Menschen große Freude ein. Und jeder irdische Kummer und jede irdische Träne wird uns zur Freude; und wenn du mit deinen Tränen die Erde unter dir eine halbe Elle tief getränkt haben wirst, dann wirst du dich sogleich über alles freuen. Und du wirst keinen, gar keinen Kummer mehr haben,‹ sagte sie; ›eine solche Prophezeiung gibt es.‹ Dieses Wort prägte sich mir damals ein. Seitdem fing ich an, beim Gebete, wenn ich die tiefen Verbeugungen machte, jedesmal die Erde zu küssen; ich küßte sie und weinte. Und ich kann dir sagen, lieber Schatow: diese Tränen sind etwas Gutes; und wenn du auch keinen Kummer hast, so fließen deine Tränen doch vor lauter Freude. Die Tränen fließen von selbst, das ist sicher. Ich ging manchmal an das Seeufer: auf der einen Seite lag unser Kloster und auf der andern unser spitzer Berg; er hieß darum auch der Spitzberg. Ich stieg auf diesen Berg hinauf und wandte mich mit dem Gesichte nach Osten, fiel auf die Erde nieder, weinte und weinte und konnte mich nicht erinnern, wie lange ich geweint hatte, und konnte mich damals an nichts erinnern und wußte damals nichts. Dann stand ich auf und wandte mich um, und die Sonne ging unter, so groß und prächtig und herrlich, – siehst du gern in die Sonne, lieber Schatow? Es ist ein schöner, aber trauriger Anblick. Dann wandte ich mich wieder nach Osten, und der Schatten, der Schatten unseres Berges lief wie ein Pfeil weit über den See hin, schmal und lang, ganz lang, über eine Werst weit, bis zu der Insel im See, und da zerschnitt er diese steinige Insel in zwei Hälften, und wenn er