»Sonderbar, daß bei uns mancher sich den Gedanken an ein solches Experiment nicht nur durch den Kopf gehen läßt, sondern ihn auch zur Ausführung bringt.«
»Aber die meisten sind schlappe Kerle,« sagte Schatow noch einmal.
»So über den Ozean zu fahren, auf einem Auswandererschiffe, nach einem unbekannten Lande, mit der Absicht, ›durch ein am eigenen Leibe vorgenommenes Experiment zu erfahren‹ und so weiter: darin liegt doch wirklich eine hochsinnige Festigkeit ... Aber wie sind Sie denn von dort zurückgekommen?«
»Ich schrieb an jemand in Europa, und er schickte mir hundert Rubel.«
Schatow hatte, während er sprach, die ganze Zeit über nach seiner Gewohnheit hartnäckig auf die Erde geblickt, selbst wenn er in Eifer geriet. Nun hob er auf einmal den Kopf in die Höhe:
»Wollen Sie den Namen des Menschen wissen?«
»Wer war es denn?«
»Nikolai Stawrogin.«
Er stand plötzlich auf, wandte sich zu seinem Schreibtische aus Lindenholz und begann auf ihm herumzukramen. Bei uns ging ein dunkles, aber glaubwürdiges Gerücht, daß seine Frau eine Zeitlang in Paris ein Verhältnis mit Nikolai Stawrogin gehabt habe, und zwar gerade vor zwei Jahren, also als Schatow in Amerika war, allerdings schon lange, nachdem sie ihn in Genf verlassen hatte. »Wenn es so steht, wie kommt er dann jetzt auf den Einfall, den Namen zu nennen und von der Geschichte zu reden?« dachte ich.
»Ich habe sie ihm bis jetzt noch nicht zurückgegeben,« sagte er, indem er sich wieder zu mir wandte; dann setzte er sich, mich unverwandt ansehend, auf seinen früheren Platz in der Ecke und fragte kurz in ganz anderem Tone:
»Sie sind doch gewiß mit einer Absicht hergekommen; was steht zu Ihren Diensten?«
Ich erzählte ihm sogleich alles in genauer historischer Ordnung und fügte hinzu, obgleich ich von meiner früheren Verliebtheit bereits zur Besinnung gekommen sei, befände ich mich doch in noch größerer Verlegenheit: ich sähe ein, daß es sich hier um etwas sehr Wichtiges für Lisaweta Nikolajewna handle, und hätte den dringenden Wunsch, ihr zu helfen; aber das ganze Unglück bestehe darin, daß ich nicht wüßte, wie ich das ihr gegebene Versprechen halten solle, ja, mir jetzt nicht einmal darüber im klaren sei, was ich ihr eigentlich versprochen hätte. Darauf versicherte ich ihm mit allem Nachdruck, daß es ihr durchaus ferngelegen habe, ihn täuschen zu wollen; es liege irgendein Mißverständnis vor, und sie sei sehr betrübt darüber, daß er heute in so ungewöhnlicher Art weggegangen sei.
Er hatte sehr aufmerksam zugehört.
»Vielleicht habe ich nach meiner Gewohnheit wirklich heute eine Dummheit gemacht ... Nun, wenn sie selbst nicht verstanden hat, warum ich so weggegangen bin, um so besser für sie.«
Er stand auf, trat zur Tür, öffnete sie ein wenig und horchte nach der Treppe zu.
»Sie wünschen diese Person selbst zu sehen?«
»Gerade das möchte ich; aber wie ist es zu machen?« rief ich, erfreut aufspringend.
»Wir wollen einfach hingehen, solange sie noch allein ist. Wenn er kommt und erfährt, daß wir dagewesen sind, dann schlägt er sie. Ich gehe oft heimlich zu ihr. Ich habe ihn heute durchgewalkt, als er wieder anfing, sie zu schlagen.«
»Was Sie sagen!«
»Allerdings; an den Haaren habe ich ihn von ihr weggerissen; er wollte mich dafür prügeln; aber ich habe ihn eingeschüchtert, und damit war die Sache zu Ende. Ich fürchte, wenn er betrunken zurückkommt und sich daran erinnert, so schlägt er sie gehörig dafür.«
Wir gingen sogleich nach unten.
V.
Die Tür zu der Lebjadkinschen Wohnung war nur zugemacht, aber nicht verschlossen, und wir traten ungehindert ein. Ihre ganze Behausung bestand aus zwei häßlichen kleinen Zimmern mit verräucherten Wänden, an denen die schmutzigen Tapeten buchstäblich in Fetzen hingen. Es war dort früher einige Jahre lang eine Speisewirtschaft gewesen, bevor der Hausbesitzer Filippow sie in sein neues Haus verlegt hatte. Die übrigen Zimmer, die zur Speisewirtschaft gedient hatten, waren jetzt zugeschlossen, und diese beiden waren dem Hauptmann Lebjadkin überlassen worden. Das Mobiliar bestand aus einfachen Bänken und Brettertischen, dazu noch aus einem sehr alten Lehnstuhl ohne Seitenlehnen. In dem zweiten Zimmer stand in einer Ecke ein mit einer baumwollenen Decke zugedecktes Bett, welches Mademoiselle Lebjadkina gehörte; der Hauptmann selbst warf sich, wenn er sich schlafen legte, jedesmal auf den Fußboden, nicht selten in den Kleidern. Überall waren Speisereste, Schmutz und Nässe zu sehen; ein großer, dicker, ganz nasser Lappen lag im ersten Zimmer mitten auf dem Fußboden, und ebendort lag in einer Lache ein alter ausgetretener Schuh. Es war klar, daß sich hier niemand um etwas kümmerte; die Öfen wurden nicht geheizt, Speisen nicht zubereitet; nicht einmal einen Samowar hatten sie, wie mir Schatow ausdrücklich erzählte. Der Hauptmann war mit seiner Schwester in größter Armut hier angekommen, wie Liputin gesagt hatte, und tatsächlich anfangs in einigen Häusern betteln gegangen; dann aber hatte er unerwartet Geld erhalten, sogleich angefangen zu trinken und war vom Branntwein so dumm und duselig geworden, daß er sich um den Haushalt gar nicht mehr kümmerte.
Mademoiselle Lebjadkina, die ich so sehr zu sehen wünschte, saß still und ruhig im zweiten Zimmer in einer Ecke auf einer Bank an einem bretternen Küchentisch. Sie redete uns nicht an, als wir die Tür öffneten, und rührte sich nicht einmal vom Platze. Schatow sagte, die Türen würden bei ihnen nie zugeschlossen, und einmal habe die Flurtür die ganze Nacht über sperrangelweit aufgestanden. Bei dem matten Scheine eines dünnen Lichtes, das in einem eisernen Leuchter steckte, erblickte ich eine weibliche Person von vielleicht dreißig Jahren, von schrecklicher Magerkeit, bekleidet mit einem alten dunklen Kattunkleide; der lange Hals war unbedeckt, die dünnen, dunklen Haare im Nacken in einen kleinen Kauz zusammengefaßt, der nicht größer war als die Faust eines zweijährigen Kindes. Sie blickte uns ganz heiter an; außer dem Leuchter befanden sich vor ihr auf dem Tische ein kleiner Spiegel in einem Holzrahmen, ein altes Spiel Karten, ein abgegriffenes Liederbüchelchen und eine Semmel, von der schon ein- oder zweimal abgebissen war. Bemerkenswert war, daß Mademoiselle Lebjadkina sich weiß und rot schminkte und sich die Lippen mit etwas bestrich. Auch malte sie sich die Augenbrauen schwarz, die auch ohnedies lang, schmal und dunkel waren. Auf ihrer schmalen, hohen Stirn zeichneten sich trotz der weißen Schminke drei lange Runzeln ziemlich scharf ab. Ich wußte bereits, daß sie lahm war; aber diesmal stand sie während unserer Anwesenheit nicht auf und ging nicht. Früher einmal, in der ersten Jugend, mochte dieses abgemagerte Gesicht ganz schön gewesen sein; aber die stillen, freundlichen grauen Augen waren auch jetzt noch merkwürdig; aus ihrem stillen, offenen, beinah fröhlichen Blicke leuchtete eine sanfte Träumerei heraus. Diese stille, ruhige Fröhlichkeit, die auch in ihrem Lächeln zum Ausdruck kam, setzte mich nach allem, was ich von der Kosakenpeitsche und den Roheiten des Bruders gehört hatte, in Erstaunen. Sonderbar: statt des peinlichen und sogar ängstlichen Gefühles, das man gewöhnlich in Gegenwart all solcher von Gott gestraften Wesen empfindet, war es mir gleich vom ersten Augenblicke an beinah angenehm, sie anzusehen, und das Gefühl, das sich nachher meiner bemächtigte, war nur Mitleid, aber keineswegs Widerwillen.
»So sitzt sie nun buchstäblich Tage lang allein da, ohne sich zu rühren, legt sich Karten oder sieht in den Spiegel,« sagte Schatow, auf sie hinweisend, als wir auf der Schwelle standen. »Er gibt ihr nichts zu essen. Die alte Frau aus dem Seitengebäude bringt ihr manchmal etwas aus Barmherzigkeit. Da sitzt sie nun hier so allein beim Lichte!«
Zu meiner Verwunderung redete Schatow laut, wie wenn sie gar nicht im Zimmer wäre.
»Guten Abend, lieber Schatow!« sagte Mademoiselle Lebjadkina freundlich.
»Ich habe dir einen Gast mitgebracht, Marja Timofejewna,« sagte Schatow.
»Nun, der Gast soll mir willkommen sein. Ich weiß nicht, wen du da hergebracht hast; ich kann mich auf so einen nicht besinnen,« erwiderte sie, indem