»Er wird dazu vielleicht keine Zeit mehr haben,« bemerkte ich.
»Das ist ganz egal,« antwortete er leise mit ruhigem Stolze, beinah geringschätzig. »Es tut mir leid, daß Sie anscheinend sich darüber lustig machen,« fügte er nach einer halben Minute hinzu.
»Es kommt mir sonderbar vor, daß Sie vorhin so reizbar waren und jetzt mit solcher Ruhe, wenn auch mit großem Eifer reden.«
»Vorhin? Das war eine lächerliche Geschichte,« versetzte er lächelnd. »Ich streite nicht gern und lache niemals,« fügte er traurig hinzu.
»Ja, Sie verbringen Ihre Nächte beim Tee gewiß nicht fröhlich.«
Ich stand auf und griff nach meiner Mütze.
»Meinen Sie?« fragte er lächelnd und einigermaßen erstaunt. »Warum denn? Nein, ich ... ich weiß nicht« (er geriet auf einmal in Verwirrung), »ich weiß nicht, wie es bei andern ist; aber ich habe das Gefühl, daß ich nicht so kann wie jeder. Jeder denkt daran und denkt dann gleich wieder an etwas anderes. Ich kann an nichts anderes denken; ich denke das ganze Leben über nur an das Eine. Mich hat Gott das ganze Leben über gequält,« schloß er plötzlich mit erstaunlicher Mitteilsamkeit.
»Aber sagen Sie doch, wenn Sie die Frage gestatten, woher kommt es, daß Sie das Russische nicht korrekt sprechen? Haben Sie es wirklich im Auslande in den fünf Jahren verlernt?«
»Spreche ich es denn inkorrekt? Ich weiß es nicht. Nein, nicht deshalb weil ich im Auslande gewesen bin. Ich habe mein ganzes Leben lang so gesprochen ... es ist mir ganz egal.«
»Noch eine delikatere Frage: ich glaube Ihnen vollkommen, daß Sie keine Neigung haben, mit Menschen zu verkehren, und daß Sie wenig mit Menschen reden. Warum haben Sie sich dann aber mit mir jetzt in ein Gespräch eingelassen?«
»Mit Ihnen? Sie haben vorhin so nett dabeigesessen, und Sie ... übrigens ist das ganz egal ... Sie haben eine große Ähnlichkeit mit meinem Bruder, eine sehr große, ganz außerordentliche,« sagte er errötend. »Er starb vor sieben Jahren; der älteste; eine sehr, sehr große.«
»Da hat er gewiß großen Einfluß auf Ihre Denkweise gehabt?«
»N-nein, er sprach wenig; er sagte nichts. Ich werde Ihren Zettel abgeben.«
Er begleitete mich mit einer Laterne zum Haustor, um hinter mir zuzuschließen.
»Selbstverständlich ein Verrückter!« sagte ich mir im stillen. Im Tore hatte ich ein neues Zusammentreffen.
IX.
Kaum hatte ich den Fuß über die hohe Schwelle des Pförtchens gesetzt, als mich auf einmal eine starke Hand an der Brust packte.
»Werda?« brüllte eine Stimme. »Freund oder Feind? Steh Rede!«
»Es ist einer von den Unsrigen, einer von den Unsrigen!« kreischte daneben Liputins schwache Stimme. »Es ist Herr G***w, ein junger Mann, der eine klassische Bildung hat und in den höchsten Kreisen verkehrt.«
»Das gefällt mir, in den höchsten Kreisen, klass ... klassisch ... also sehr ge-gebildet ... Hauptmann a.D. Ignat Lebjadkin; stehe der Welt und den Freunden zu Diensten ... wenn sie treu sind, wenn sie treu sind, die Schurken!«
Hauptmann Lebjadkin, ein Hüne von Gestalt, dick, fleischig, kraushaarig, rot im Gesicht und stark betrunken, konnte kaum vor mir auf den Beinen stehen und brachte die Worte nur mit Mühe heraus. Ich hatte ihn übrigens auch früher schon von weitem gesehen.
»Ach, auch der ist da!« brüllte er wieder, als er Kirillow erblickte, der mit seiner Laterne immer noch nicht fortgegangen war. Er wollte schon die Faust erheben, ließ sie aber sogleich wieder sinken.
»Ich verzeihe Ihnen wegen Ihres Wissens! Ignat Lebjadkin ist ein hoch-hoch-ge-gebildeter ...
Die Liebe fiel mit süßem Schmerz
Wie eine Bombe in mein Herz.
Ich büßte (o wie kummervoll!)
Den Arm ein bei Sewastopol.
Ich bin allerdings nicht bei Sewastopol gewesen und bin auch nicht einmal einarmig; aber was sagen Sie zu den Versen?« Dabei kam mir der Betrunkene mit seinem übelriechenden Gesichte näher.
»Der Herr hat keine Zeit, keine Zeit; er muß nach Hause gehen,« redete ihm Liputin zu. »Er wird morgen alles Lisaweta Nikolajewna wiedererzählen.«
»Lisaweta! ...« heulte er wieder. »Halt! Gehen Sie nicht weg! ... Noch ein andres Gedicht:
Vergleichbar dem leuchtenden Sterne,
Jagt die Reit'rin einher wie der Wind;
Es grüßt mich mit Lächeln von ferne
Das ari-sto-kratische Kind.
An die sterngleiche Reiterin.«
Ja, sehen Sie wohl, das ist ein Hymnus! Das ist ein Hymnus, wenn Sie kein Esel sind! Die Tagediebe, die haben kein Verständnis dafür! »Halt!« schrie er und klammerte sich an meinen Paletot fest, obwohl ich mich mit aller Kraft durch das Pförtchen drängte. »Bestellen Sie ihr, daß ich ein Ritter bin, der Ehre im Leibe hat; und Dascha ... diese Dascha werde ich mit zwei Fingern ... Diese leibeigene Magd wird nicht wagen ...«
Hier fiel er hin, weil ich mich mit Gewalt aus seinen Händen riß und auf die Straße lief. Liputin folgte mir dorthin.
»Alexei Nilowitsch wird ihn schon aufheben. Wissen Sie, was ich soeben von ihm erfahren habe?« schwatzte er eifrig. »Haben Sie die Verse gehört? Nun, diese selben Verse an die ›sterngleiche Reiterin‹ hat er drucken lassen und wird sie morgen mit seiner vollen Namensunterschrift an Lisaweta Nikolajewna schicken. Was sagen Sie zu einem solchen Menschen?«
»Ich möchte darauf wetten, daß Sie selbst ihn dazu veranlaßt haben.«
»Sie werden die Wette verlieren!« versetzte Liputin lachend. »Er ist verliebt, verliebt wie ein Kater, und wissen Sie wohl, daß die Geschichte mit Haß begonnen hat? Er hat Lisaweta Nikolajewna anfangs wegen ihres Reitens dermaßen gehaßt, daß er beinahe auf der Straße laut auf sie geschimpft hat; und er hat es auch wirklich getan! Noch vorgestern hat er auf sie geschimpft, als sie vorbeiritt; zum Glück hörte sie es nicht. Und nun auf einmal heute Verse! Wissen Sie wohl, daß er es wagen will, ihr einen Antrag zu machen? Im Ernst, im Ernst!«
»Ich muß mich über Sie wundern, Liputin; überall, wo solch ekelhaftes Treiben stattfindet, überall sind Sie der Anführer!« rief ich zornig.
»Da übertreiben Sie doch, Herr G***w! Hat Ihnen nicht das Herzchen gepuckert aus Angst vor dem Nebenbuhler? Wie?«
»Wa-a-as?« rief ich, stehen bleibend.
»Sehen Sie, nun werde ich Ihnen zur Strafe auch nichts weiter sagen! Und wie gern würden Sie es hören! Schon allein das, daß dieser Dummkopf jetzt kein einfacher Hauptmann ist, sondern ein Gutsbesitzer unseres Gouvernements, und noch dazu ein ziemlich bedeutender, da Nikolai Wsewolodowitsch ihm sein ganzes Gut, seine früheren zweihundert Seelen dieser Tage verkauft hat, und Gott straf mich, ich lüge Ihnen nichts vor. Ich habe es eben erst erfahren, aber dafür aus ganz zuverlässiger Quelle. Na, jetzt tasten Sie sich nur selbst mit Ihrem Spürsinn weiter; mehr werde ich Ihnen nicht sagen. Auf Wiedersehen!«
X.
Stepan Trofimowitsch erwartete mich in krampfhafter Aufregung. Er war schon vor einer Stunde zurückgekehrt. Als ich ihn sah, machte er den Eindruck eines Betrunkenen; wenigstens glaubte ich die ersten fünf Minuten lang, daß er betrunken sei. Der Besuch bei Drosdows hatte ihn leider vollkommen wirr im Kopfe gemacht.
»Mon ami, ich habe jetzt den Faden des