»Die Stadt macht Geschrei? Worüber macht die Stadt Geschrei?«
»Ich meine, Hauptmann Lebjadkin macht in betrunkenem Zustande in der ganzen Stadt Geschrei; na, und ist das nicht dasselbe, wie wenn der ganze Marktplatz schriee? Was trifft mich für eine Schuld? Ich rede über diese Sache nur unter Freunden und glaube doch hier unter Freunden zu sein,« sagte er und ließ mit harmloser Miene seine Augen über uns alle hingleiten. »Da ist eine merkwürdige Geschichte passiert, denken Sie nur: es kommt heraus, daß Seine Exzellenz noch aus der Schweiz durch ein hochachtbares junges Mädchen, nämlich durch eine bescheidene Waise, die zu kennen ich die Ehre habe, dreihundert Rubel zur Aushändigung an Hauptmann Lebjadkin hergeschickt hat. Aber bald darauf hat Lebjadkin die ganz zuverlässige Nachricht erhalten (ich sage nicht von wem, aber ebenfalls von einer hochachtbaren und somit durchaus glaubwürdigen Persönlichkeit), daß nicht dreihundert, sondern tausend Rubel abgeschickt sind! ... Infolgedessen macht Lebjadkin Geschrei, das junge Mädchen habe ihm siebenhundert Rubel unterschlagen, und beabsichtigt, die Hilfe der Polizei anzurufen; wenigstens droht er damit und erhebt in der ganzen Stadt einen großen Lärm ...«
»Das ist gemein! Das ist gemein von Ihnen!« rief der Ingenieur und sprang von seinem Stuhle auf.
»Aber Sie selbst sind ja die hochachtbare Persönlichkeit, die dem Hauptmann Lebjadkin von Nikolai Wsewolodowitsch die Nachricht gebracht hat, daß nicht dreihundert, sondern tausend Rubel übersandt seien. Mir hat es ja der Hauptmann selbst in der Betrunkenheit mitgeteilt.«
»Das ... das ist ein unglückliches Mißverständnis. Irgend jemand hat sich geirrt, und nun hat es solche Folgen ... Es ist Unsinn, und Sie haben gemein gehandelt! ...«
»Auch ich will gern glauben, daß es Unsinn ist, und habe es mit Bedauern gehört, weil dadurch erstens ein hochanständiges Mädchen in die Geschichte mit den siebenhundert Rubeln hineingezogen wird und zweitens ihre intimen Beziehungen zu Nikolai Wsewolodowitsch offenkundig werden. Aber was macht sich seine Exzellenz daraus, ein anständiges Mädchen zu kompromittieren oder eine fremde Frau zu entehren, ähnlich wie er es in meinem Falle tat? Wenn ihm ein hochgesinnter Mann vorkommt, dann zwingt er ihn, fremde Sünden mit seinem ehrlichen Namen zu verdecken. Eben das habe ich erdulden müssen; ich rede von mir selbst ...«
»Nehmen Sie sich in acht, Liputin!« rief Stepan Trofimowitsch, indem er sich von seinem Lehnstuhl erhob; er war ganz blaß geworden.
»Glauben Sie es nicht, glauben Sie es nicht! Es hat sich irgend jemand geirrt, und Lebjadkin ist ein Trunkenbold!« schrie der Ingenieur in unbeschreiblicher Aufregung. »Es wird sich alles aufklären; aber ich kann nicht mehr ... und ich halte es für eine Niederträchtigkeit ... Genug davon, genug!«
Er rannte aus dem Zimmer.
»Was haben Sie denn? Ich komme ja mit Ihnen mit!« rief Liputin eilig, sprang auf und lief hinter Alexei Nilowitsch her.
VII.
Stepan Trofimowitsch stand eine Minute lang in Gedanken versunken da, blickte mich an, ohne mich zu sehen, nahm dann seinen Hut und Stock und ging sachte aus dem Zimmer. Ich folgte ihm wieder wie vorher. Als wir aus dem Tor traten, bemerkte er, daß ich ihn begleitete, und sagte:
»Ach ja, Sie können als Zeuge dienen ... de l'accident. Vous m'accompagnerez, nest-ce pas?«
»Stepan Trofimowitsch, wollen Sie denn wirklich wieder dorthin? Überlegen Sie doch, was die Folge sein kann!«
Mit einem kläglichen, fassungslosen Lächeln, einem Lächeln, in welchem Scham und völlige Verzweiflung und gleichzeitig ein sonderbares Entzücken zum Ausdruck kamen, flüsterte er mir, einen Augenblick stehen bleibend, zu:
»Ich kann doch nicht ›fremde Sünden‹ heiraten!«
Auf dieses Wort hatte ich nur gewartet. Endlich war dieses bedeutungsvolle Wort ausgesprochen worden, das er mir eine ganze Woche lang durch allerlei Winkelzüge und Ausflüchte zu verbergen gesucht hatte. Ich kam geradezu außer mir.
»Und ein so schmutziger, ein so gemeiner Gedanke konnte bei Ihnen entstehen, bei Stepan Werchowenski, in Ihrem hellen Verstande, in Ihrem guten Herzen, und ... und sogar noch vor Liputins Mitteilungen!«
Er sah mich an, antwortete aber nicht und ging auf demselben Wege weiter. Ich wollte ihn nicht verlassen. Ich wollte bei Warwara Petrowna Zeuge sein. Ich hätte ihm verziehen, wenn er in seinem weibischen Kleinmute nur Liputin Glauben geschenkt hätte; aber jetzt war es deutlich, daß er schon lange vor Liputins Einflüsterungen sich in seinem Kopfe alles in dieser Weise zurechtgelegt und daß Liputin jetzt nur seinen Verdacht bestärkt und Öl ins Feuer gegossen hatte. Er hatte kein Bedenken getragen, das junge Mädchen gleich vom ersten Tage an zu beargwöhnen, noch ehe er irgendwelche Gründe dafür hatte, nicht einmal die von Liputin vorgebrachten. Warwara Petrownas despotisches Verfahren erklärte er sich nur aus ihrem Wunsche, um jeden Preis so schnell wie möglich durch die Heirat mit einem achtbaren Manne die adligen Sünden ihres teuren Nikolai zu vertuschen! Ich wünschte von Herzen, daß er dafür bestraft werden möchte.
»O! Dieu, qui est si grand et si bon! Oh, wer wird mir meine Ruhe wiedergeben?« rief er aus, nachdem er noch hundert Schritte weitergegangen war, und blieb plötzlich stehen.
»Kommen Sie schnell nach Hause; da will ich Ihnen alles erklären!« rief ich und drehte ihn mit Gewalt um, nach seinem Hause zu.
»Er ist es! Stepan Trofimowitsch, sind Sie es? Wirklich?« ertönte eine frische, muntere, jugendliche Stimme, die wie Musik klang, in unserer Nähe.
Wir sahen nichts; aber neben uns erschien plötzlich eine Reiterin, Lisaweta Nikolajewna, mit ihrem ständigen Begleiter. Sie hielt ihr Pferd an.
»Kommen Sie, kommen Sie schnell her!« rief sie laut in lustigem Tone. »Ich habe ihn zwölf Jahre lang nicht gesehen und doch erkannt; aber er ... Erkennen Sie mich wirklich nicht?«
Stepan Trofimowitsch ergriff die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und küßte sie ehrfurchtsvoll. Er blickte sie an mit einem Gesichte, als ob er betete, und konnte kein Wort herausbringen.
»Er