Die Dämonen. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754188668
Скачать книгу
in einer sonderbaren Gesellschaft lebte und sich an den Abschaum der Petersburger Bevölkerung angeschlossen hatte, an stiefellose Beamte, verabschiedete Militärs, die in anständiger Form um Almosen baten, und Trunkenbolde, daß er die schmutzigen Familien dieser Leute besuchte, Tag und Nacht in obskuren Spelunken und Gott weiß was für Winkelgassen zubrachte, heruntergekommen und zerlumpt war und offenbar an diesem Leben Gefallen fand. Er bat seine Mutter nicht um Geld; er hatte ein eigenes kleines Gut, das Dörfchen, welches dem General Stawrogin gehört hatte, wenigstens einigen Ertrag gab, und das er den Gerüchten zufolge an einen Deutschen aus Sachsen verpachtet hatte. Schließlich bat ihn die Mutter inständig, zu ihr zu kommen, und Prinz Harry erschien in unserer Stadt. Das war das erstemal, wo ich ihn erblickte; bis dahin hatte ich ihn nie zu sehen bekommen.

      Er war ein sehr schöner junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, und ich muß bekennen, daß ich von seiner Erscheinung überrascht war. Ich hatte erwartet, einen schmutzigen, zerlumpten, von Ausschweifungen abgemergelten, nach Branntwein riechenden Menschen vor mir zu sehen. Aber er war ganz im Gegenteil der eleganteste Gentleman, der mir je vor Augen gekommen ist, außerordentlich gut gekleidet und mit einer Haltung, wie sie nur ein an den feinsten Anstand gewöhnter Herr aufweisen kann. Und ich war nicht der einzige, welcher staunte; es staunte die ganze Stadt, der natürlich Herrn Stawrogins ganze Biographie bereits bekannt war und sogar mit solchen Details, daß man sich wundern mußte, wie sie hatten in die Öffentlichkeit gelangen können; und das wunderbarste dabei war, daß sich die Hälfte dieser Details als wahr erwies. Alle unsere Damen waren über den neuen Gast in Aufregung. Sie teilten sich in scharfer Sonderung in zwei Parteien; die einen vergötterten ihn, die andern haßten ihn tödlich; aber in Aufregung waren die einen wie die andern. Für die einen hatte es einen besonderen Reiz, daß auf seiner Seele vielleicht ein verhängnisvolles Geheimnis lastete; andere fanden entschieden Gefallen daran, daß er ein Mörder war. Es stellte sich auch heraus, daß er eine ganz hübsche Bildung und sogar einige wissenschaftliche Kenntnisse besaß. Kenntnisse waren allerdings nicht viele erforderlich, um uns in Verwunderung zu versetzen; aber er war imstande, auch über interessante Tagesfragen zu sprechen und, was dabei das wertvollste war, mit bemerkenswerter Besonnenheit. Als eine Seltsamkeit erwähne ich dies: wir alle fanden fast vom ersten Tage an, daß er ein außerordentlich vernünftiger Mensch sei. Er war ziemlich schweigsam, geschmackvoll ohne Künstelei, erstaunlich bescheiden und dabei gleichzeitig kühn und selbstvertrauend wie bei uns sonst niemand. Unsere Stutzer blickten auf ihn mit Neid und wurden von ihm vollständig in den Schatten gestellt. Auch sein Gesicht überraschte mich: das Haar war dunkelschwarz, seine hellen Augen sehr ruhig und klar, die Gesichtsfarbe sehr zart und weiß, die Röte der Wangen etwas zu grell und rein, die Zähne wie Perlen, die Lippen wie Korallen; – man glaubte, das gemalte Porträt eines schönen Mannes zu sehen, und doch wirkte sein Gesicht abstoßend. Manche sagten, sein Gesicht erinnere an eine Maske; übrigens wurde vieles geredet, unter anderm sprach man auch von seiner ungewöhnlichen Körperstärke. Was seine Natur anlangt, so konnte man ihn beinahe hochgewachsen nennen. Warwara Petrowna blickte auf ihn mit Stolz, aber auch mit steter Unruhe. Er lebte bei uns etwa ein halbes Jahr, matt, still und ziemlich mürrisch; er zeigte sich auch in der Gesellschaft und erfüllte mit steter Achtsamkeit die Vorschriften der in unserer Gouvenementsstadt herrschenden Etikette. Mit dem Gouverneur war er von Vaterseite her verwandt und wurde in seinem Hause wie ein naher Verwandter aufgenommen. Aber einige Monate waren vergangen, da zeigte die Bestie auf einmal ihre Krallen.

      Ich bemerke bei dieser Gelegenheit in Parenthese, daß unser lieber, milder früherer Gouverneur Iwan Osipowitsch einige Ähnlichkeit mit einem alten Weibe hatte, aber von guter Familie war und wertvolle Konnexionen besaß, wodurch es sich auch erklärt, daß er bei uns so viele Jahre in seinem Amte verblieb, obwohl er sich gegen jede Arbeit sträubte. Wegen seiner Gastfreiheit hätte er in der guten alten Zeit zum Adelsmarschall getaugt, aber nicht zum Gouverneur in einer so unruhvollen Zeit wie die unsrige. In der Stadt hieß es beständig, das Gouvernement werde nicht von ihm verwaltet, sondern von Warwara Petrowna. Das war allerdings eine bissige Bemerkung, aber auch eine vollständige Unwahrheit. Indessen auf solche Bemerkungen wurde bei uns viel Witz verwandt. Aber Warwara Petrowna hatte sich ganz im Gegenteil in den letzten Jahren geflissentlich jeder stärkeren Einwirkung auf die Verwaltung enthalten, trotz der außerordentlichen Hochachtung, die ihr die ganze Gesellschaft entgegenbrachte, und ihre Tätigkeit freiwillig in strenge, von ihr selbst gesteckte Grenzen eingeschlossen. Statt solcher Einwirkung auf die Verwaltung hatte sie auf einmal angefangen, sich mit der Gutswirtschaft zu beschäftigen, und in zwei, drei Jahren den Ertrag ihres Gutes beinah auf die frühere Höhe gebracht. Statt der früheren schwärmerischen Anwandlungen, wie es die Reise nach Petersburg, die beabsichtigte Gründung eines Journals und anderes mehr gewesen waren, hatte sie angefangen zusammenzuscharren und zu geizen. Sogar ihren Freund Stepan Trofimowitsch hatte sie von sich etwas weiter entfernt, indem sie ihm erlaubt hatte, sich eine Wohnung in einem andern Hause zu mieten, worum er sie schon lange unter verschiedenen Vorwänden gebeten hatte. Allmählich begann Stepan Trofimowitsch sie eine prosaische Frau oder noch scherzhafter seine prosaische Freundin zu nennen. Selbstverständlich erlaubte er sich diese Scherze nur in der respektvollsten Form, und nachdem er lange auf einen geeigneten Augenblick gewartet hatte.

      Wir alle, die wir ihr nahe standen, merkten (und Stepan Trofimowitsch fühlte das noch mehr heraus als wir übrigen), daß sich für sie an ihren Sohn eine neue Hoffnung, ja ein neuer Zukunftstraum knüpfte. Ihre leidenschaftliche Liebe zu ihrem Sohne hatte begonnen, als er in der Petersburger Gesellschaft so reussierte, und war noch besonders in dem Augenblicke gewachsen, als sie die Nachricht von seiner Degradation zum Gemeinen erhalten hatte. Aber gleichzeitig fürchtete sie sich offenbar vor ihm und machte ihm gegenüber den Eindruck einer Dienerin. Man konnte merken, daß sie etwas Unbestimmtes, Geheimnisvolles fürchtete, was sie selbst nicht näher hätte bezeichnen können, und oft betrachtete sie heimlich und unverwandt ihren Nikolai und überlegte etwas und suchte etwas zu erraten ... und siehe da, plötzlich streckte die Bestie ihre Krallen heraus.

      II.

      Unser Prinz beging auf einmal aus heiler Haut zwei, drei unglaubliche Dreistigkeiten gegen verschiedene Personen; die Hauptsache war dabei, daß diese Dreistigkeiten ganz unerhört waren, alles überstiegen, gar keine Ähnlichkeit mit solchen hatten, wie sie gang und gäbe sind, ganz gemein und bubenhaft waren und jedes Anlasses vollständig entbehrten. Einer der hochachtbaren Vorsteher unseres Klubs, Peter Pawlowitsch Gaganow, ein bejahrter und sogar verdienstvoller Mann, hatte die unschuldige Gewohnheit angenommen, zu jedem Satze zornig hinzuzufügen: »Nein, ich werde mich nicht an der Nase herumführen lassen!« Nun, mochte er! Aber als er wieder einmal im Klub aus Anlaß eines hitzigen Disputs dieses Sprüchlein zu einem um ihn versammelten Häuschen von Klubgästen (lauter Männern höheren Ranges) gesagt hatte, da trat Nikolai Wsewolodowitsch, der etwas abseits allein stand, und an den sich überhaupt niemand gewendet hatte, auf einmal an Peter Pawlowitsch heran, faßte ihn unerwartet, aber kräftig mit zwei Fingern bei der Nase und zog ihn zwei, drei Schritte weit im Saale hinter sich her. Irgendwelchen Groll konnte er gegen Herrn Gaganow nicht haben. Man hätte dies für einen reinen Schülerstreich, selbst verständlich allerdings für einen unverzeihlichen, halten können; aber Nikolai war, wie später erzählt wurde, im Augenblick der Tat fast nachdenklich, »wie wenn er den Verstand verloren gehabt hätte«; indes war es erst später, daß man sich daran erinnerte und sich darüber klar wurde. In der ersten Erregung erinnerten sich alle nur an den zweiten Augenblick, wo Nikolai das Getane sicherlich schon in seiner wahren Gestalt begriffen hatte, aber statt verlegen zu werden vielmehr im Gegenteil boshaft und heiter lächelte, »ohne die geringste Reue«. Es erhob sich ein schrecklicher Lärm; man umringte ihn. Nikolai Wsewolodowitsch drehte sich nach allen Seiten um und sah alle an, gab aber niemandem eine Antwort und betrachtete neugierig die Gesichter der ihn Anschreienden. Endlich machte er plötzlich, wie wenn er wieder nachdenklich würde (so erzählte man wenigstens), ein finsteres Gesicht, ging festen Schrittes auf den beleidigten Peter Pawlowitsch zu und murmelte hastig und anscheinend verdrossen:

      »Sie entschuldigen wohl ... Ich weiß wirklich nicht, wie ich auf einmal Lust dazu bekam ... Es war eine Dummheit ...«

      Die Nachlässigkeit der Entschuldigung kam einer neuen Beleidigung gleich. Ein noch ärgeres Geschrei erhob sich. Nikolai Wsewolodowitsch zuckte mit den Achseln und ging hinaus.