»Hastig, wie wir nun einmal sind,« schloß er die Reihe seiner interessanten Gedanken, »haben wir uns mit unsern Bauern übereilt. Wir haben sie in Mode gebracht, und ein ganzer Zweig unserer Literatur hat sich mehrere Jahre hintereinander mit ihnen wie mit einem neuentdeckten Kleinode beschäftigt. Wir haben Lorbeerkränze auf verlauste Köpfe gesetzt. Das russische Dorf hat im Laufe eines ganzen Jahrtausends uns weiter nichts gegeben als den Kamarinski. Ein bedeutender russischer Dichter, dem es nicht an klugem Verstande mangelt, rief, als er zum erstenmal die große Rachel auf der Bühne sah, entzückt aus: ›Ich gebe die Rachel nicht für einen Bauer hin!‹ Ich möchte noch weiter gehen und sagen: ich gebe alle russischen Bauern für die eine Rachel hin. Es ist Zeit, daß wir die Sache etwas nüchterner betrachten und nicht unsern heimischen derben Teer mit bouquet de l'impératrice vermischen.«
Liputin stimmte ihm sogleich bei, bemerkte aber, daß es damals doch für die liberale Richtung unumgänglich notwendig gewesen sei, auch gegen die eigene Überzeugung die Bauern zu loben; hätten doch selbst Damen der höchsten Gesellschaftskreise bei der Lektüre von ›Anton, der Unglücksmensch‹ Tränen vergossen, und manche von ihnen hätten sogar aus Paris an ihre Verwalter geschrieben, sie sollten von nun an die Bauern möglichst human behandeln.
Es begab sich, und zufällig gerade nach jenen Gerüchten, daß auch in unserm Gouvernement, nur fünfzehn Werst von Skworeschniki entfernt, Mißhelligkeiten vorkamen, so daß man in der ersten Hitze ein Militärkommando hinschickte. Bei diesem Anlaß regte sich Stepan Trofimowitsch dermaßen auf, daß auch wir darüber einen Schreck bekamen. Er rief im Klub, es sei mehr Militär nötig; man solle aus einem andern Kreise telegraphisch welches herbeirufen. Er lief zum Gouverneur und versicherte ihm, daß er bei der Sache ganz unbeteiligt sei; er bat, man möchte ihn nicht etwa auf Grund alter Erinnerungen in diese Affäre hineinmengen, und ersuchte den Gouverneur, über diese seine Erklärung unverzüglich nach Petersburg an die zuständige Stelle zu berichten. Ein Glück, daß dies alles schnell vorüberging und sich in nichts auflöste; aber ich habe mich damals über Stepan Trofimowitsch höchlichst gewundert.
Drei Jahre darauf fing man bekanntlich an von Nationalität zu sprechen, und es entstand die »öffentliche Meinung«. Stepan Trofimowitsch lachte darüber herzlich.
»Meine Freunde,« sagte er in lehrhaftem Tone, »unsere Nationalität, wenn sie wirklich ›geboren ist‹, wie die Leute jetzt in den Zeitungen behaupten, sitzt noch in der Schule, in einer deutschen Kinderschule, bei einem deutschen Buche, und lernt ihre ewige deutsche Aufgabe, und der deutsche Lehrer läßt sie nötigenfalls zur Strafe niederknien. Wegen des deutschen Lehrers lobe ich sie; aber das wahrscheinlichste ist, daß überhaupt nichts geschehen und nichts Derartiges geboren ist, sondern alles so weitergeht, wie es bisher gegangen ist, das heißt unter Gottes Schutze! Meiner Ansicht nach genügt das auch für Rußland, pour notre sainte Russie. Zudem sind dieses ganze Allslawentum und diese ganze Nationalität viel zu alt, um neu zu sein. Die Nationalität, kann man wohl sagen, ist bei uns noch nie etwas anderes gewesen als ein phantastischer, aus vornehmen, noch dazu Moskauer, Klubs herstammender Einfall. Ich rede natürlich nicht von der Zeit Igors. Und schließlich rührt das alles vom Müßiggange her. Daher rührt bei uns alles, auch das Gute und Schöne. Alles rührt von unserm herrschaftlichen, lieben, gebildeten, launischen Müßiggange her! Das werde ich nie müde werden zu wiederholen. Wir verstehen es nicht, von unserer Arbeit zu leben. Und was machen sie jetzt für ein Gerede von einer angeblich bei uns entstandenen öffentlichen Meinung? Ist die so plötzlich ohne weiteres vom Himmel gefallen? Verstehen diese Menschen denn nicht, daß, um in den Besitz einer eigenen Meinung zu gelangen, vor allen Dingen Arbeit nötig ist, eigene Arbeit, eigene Initiative, eigene Praxis? Ohne Müh und Arbeit wird nie etwas erreicht. Wenn wir arbeiten werden, werden wir auch eine eigene Meinung haben. Aber da wir nie arbeiten werden, so werden an unserer Statt auch immer diejenigen eine Meinung haben, die statt unser bisher gearbeitet haben, das heißt Westeuropa, die Deutschen, die seit zwei Jahrhunderten unsere Lehrer sind. Überdies ist Rußland ein zu großes Rätsel, als daß wir allein, ohne die Deutschen und ohne Arbeit, es lösen könnten. Schon seit zwanzig Jahren läute ich Sturm und rufe zur Arbeit auf! Ich habe mein Leben diesem Aufrufe geweiht, und ich Tor habe an einen Erfolg geglaubt! Jetzt glaube ich daran nicht mehr; aber ich läute und werde läuten bis zu meinem Ende, bis zum Grabe; ich werde den Glockenstrick ziehen, bis man zu meiner Seelenmesse läutet!«
Leider stimmten wir ihm lediglich bei. Wir klatschten unserm Lehrer Beifall, und mit welchem Eifer! Aber, meine Herren, hört man nicht auch jetzt noch auf Schritt und Tritt solchen »hübschen«, »verständigen«, »liberalen«, altrussischen Unsinn?
An Gott glaubte unser Lehrer. »Ich begreife nicht, warum mich hier alle als Gottesleugner hinstellen?« sagte er manchmal. »Ich glaube an Gott; mais distinguons: ich glaube an ihn wie an ein Wesen, das sich seiner nur in mir bewußt wird. Ich kann eben nicht in der Weise an ihn glauben wie meine Nastasja« (das Dienstmädchen), »oder wie ein Hausherr, der ›unter allen Umständen‹ glaubt, oder wie unser lieber Schatow, – übrigens nein, Schatow scheidet hier aus. Schatow glaubt zwangsweise, als Moskauer Slawophile. Was aber das Christentum anlangt, so bin ich bei all meiner aufrichtigen Hochachtung gegen dasselbe doch kein Christ. Eher bin ich ein antiker Heide wie der große Goethe oder wie die alten Griechen. Man nehme schon allein den Umstand, daß das Christentum kein Verständnis für das Weib gehabt hat, wie das George Sand in einem ihrer genialsten Romane so prächtig dargelegt hat. Was Verbeugungen, Fasten und all dergleichen anlangt, so sehe ich nicht ab, wen meine Ansicht darüber etwas angeht. Mögen auch unsere hiesigen Denunzianten eine noch so rege Tätigkeit entwickeln, so will ich doch kein Jesuit sein. Im Jahre 1847 schickte Bjelinski, der damals im Auslande war, seinen bekannten Brief an Gogol und machte diesem darin heftige Vorwürfe darüber, daß er ›an irgendwelchen Gott‹ glaube. Entre nous soit dit, ich kann mir nichts Komischeres vorstellen als den Augenblick, wo Gogol (der damalige Gogol!) diesen Ausdruck und den ganzen Brief las! Aber ich lasse die Lächerlichkeit beiseite, und da ich in allem Wesentlichen einverstanden bin, so sage ich und spreche es aus: das waren Männer! Sie verstanden es, ihr Volk zu lieben; sie verstanden es, für dasselbe zu leiden; sie verstanden es, für dasselbe alles zu opfern, und sie verstanden es gleichzeitig, wo das nötig war, auf ein Zusammengehen mit ihm zu verzichten und ihm in gewissen Anschauungen nicht nach dem Munde zu reden. Es war doch auch wirklich unmöglich, daß ein Bjelinski die Erlösung in Fastenöl oder in Rettich mit Erbsen suchte! ...«
Aber hier erhob Schatow Einspruch.
»Niemals haben diese Ihre Männer das Volk geliebt, für dasselbe gelitten und ein Opfer gebracht, wenn sie sich das auch selbst zu ihrem Troste eingebildet haben mögen!« brummte er grimmig, indem er die Augen auf den Boden richtete und sich ungeduldig auf seinem Stuhle hin und her drehte.
»Diese Männer, die sollten das Volk nicht geliebt haben!« rief Stepan Trofimowitsch klagend. »O, wie haben sie Rußland geliebt!«
»Weder Rußland noch das Volk!« rief nun Schatow ebenfalls erregt; seine Augen funkelten. »Man kann nicht lieben, was man nicht kennt, und sie haben keinen Begriff vom russischen Volke gehabt! Alle diese Männer und Sie mit ihnen haben das russische Volk durch eine Brille betrachtet, und Bjelinski ganz besonders; das geht schon aus ebendiesem seinem Briefe an Gogel hervor. Bjelinski hat, genau so wie der Wißbegierige in der Krylowschen Fabel, den Elefanten im zoologischen Museum nicht bemerkt und seine ganze Aufmerksamkeit auf die französischen sozialistischen Käferchen gerichtet; dabei ist er bis zu seinem Lebensende verblieben. Und der war doch noch verständiger als Sie alle! Und nicht genug damit, daß Sie das Volk verkennen, empfinden Sie gegen dasselbe auch Ekel und Geringschätzung, schon allein deswegen, weil Sie sich unter einem Volke nur das französische