Gleich am andern Tage erschienen bei Warwara Petrowna früh morgens fünf Literaten, von denen ihr drei ganz unbekannt waren; sie hatte sie nie gesehen. Sie erklärten ihr mit ernster Miene, sie hätten die Angelegenheit mit ihrem Journal erwogen und darüber Beschluß gefaßt. Warwara Petrowna hatte absolut nie und niemandem den Auftrag gegeben, in betreff ihres Journals etwas zu erwägen und einen Beschluß zu fassen. Der Beschluß bestand darin, sie solle, sobald sie das Journal werde gegründet haben, ihnen dasselbe sofort mitsamt dem erforderlichen Kapitale übergeben, und zwar mit den Rechten einer freien Handelsgesellschaft; sie selbst solle nach Skworeschniki zurückreisen und nicht vergessen, Stepan Trofimowitsch mitzunehmen, »der schon recht alt geworden sei«. Aus Zartgefühl erklärten sie sich bereit, ihr das Eigentumsrecht zuzuerkennen und ihr jährlich ein Sechstel des Gewinnes zuzusenden. Das rührendste war dabei, daß von diesen fünf Leuten aller Wahrscheinlichkeit nach vier keinerlei eigennützige Absicht hatten, sondern sich nur im Namen der »gemeinsamen Sache« so viel Mühe machten.
»Wir waren, als wir abfuhren, wie betäubt,« erzählte Stepan Trofimowitsch; »ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, und ich erinnere mich, daß ich beim Klappern der Waggonräder immer nur ein paar sinnlose Verse vor mich hinmurmelte, bis dicht vor Moskau. Erst in Moskau kam ich wieder ordentlich zur Besinnung, als ob ich dort tatsächlich in eine andere Atmosphäre gelangt wäre.« »O meine Freunde!« rief er manchmal in edler Erregung aus, »Sie können es sich gar nicht vorstellen, welche Betrübnis und welcher Ingrimm die ganze Seele erfüllen, wenn unverständige Menschen eine große Idee, die man schon lange heilig geachtet hat, aufgreifen und zu ebensolchen Dummköpfen, wie sie selbst es sind, auf die Straße schleppen und man sie dann auf einmal auf dem Trödelmarkte wiederfindet, kaum wiederzuerkennen, mit Schmutz besudelt, in abgeschmackter Art in einem Winkel zur Schau gestellt, wo es an aller Proportion und Harmonie fehlt, ein Spielzeug für dumme Kinder! Nein, da war es doch zu unserer Zeit anders, und wir haben andere Ziele verfolgt. Ja, ja, ganz andere Ziele! Ich erkenne die Welt gar nicht wieder ... Aber unsere Zeit wird wiederkommen und wird alles, was jetzt schwankt und taumelt, auf den festen Weg führen. Was soll denn auch sonst aus der Welt werden? ...«
VII.
Gleich nach der Rückkehr aus Petersburg schickte Warwara Petrowna ihren Freund »zu seiner Erholung« ins Ausland; auch war es erforderlich, daß sie sich für einige Zeit voneinander trennten, das fühlte sie. Stepan Trofimowitsch fuhr ganz entzückt ab: »Dort werde ich ein neues Leben beginnen!« rief er aus. »Dort werde ich mich endlich wieder der Wissenschaft widmen!« Aber gleich in den ersten Briefen aus Berlin stimmte er wieder die alte Leier an: »Mein Herz ist zerrissen,« schrieb er an Warwara Petrowna; »ich kann die Vergangenheit nicht vergessen! Hier in Berlin hat mich alles an meine alte Zeit erinnert, an meine ersten Wonnen und an meine ersten Qualen. Wo ist sie? Wo sind jetzt diese beiden weiblichen Wesen? Wo seid ihr, ihr meine beiden guten Engel, deren ich nie wert gewesen bin? Wo ist mein Sohn, mein geliebter Sohn? Wo ist endlich mein eigenes früheres Ich geblieben, ich, der ich ehemals stark wie Stahl und unerschütterlich wie ein Fels war, während jetzt so ein Andrejew, ein rechtgläubiger, bärtiger Hansnarr, peut briser mon existence en deux«, usw. usw. Was Stepan Trofimowitschs Sohn anlangt, so hatte er ihn nur zweimal in seinem ganzen Leben gesehen, das erstemal, als er geboren wurde, und das zweitemal kürzlich in Petersburg, wo der junge Mensch sich zum Eintritt in die Universität vorbereitete. Die ganze Zeit her war der Knabe, wie bereits gesagt ist, bei seinen Tanten im Gouvernement O***, siebenhundert Werst von Skworeschniki entfernt, (auf Warwara Petrownas Kosten) erzogen worden. Was nun jenen Andrejew anlangt, so war das ganz einfach unser hiesiger Kaufmann und Ladenbesitzer Andrejew, ein großer Sonderling, archäologischer Autodidakt, leidenschaftlicher Sammler russischer Altertümer, der sich manchmal vor Stepan Trofimowitsch mit seinen Kenntnissen und namentlich mit seiner patriotischen Gesinnung aufspielte. Dieser achtbare Kaufmann mit seinem grauen Barte und seiner großen silbernen Brille hatte von Stepan Trofimowitsch einige Desjätinen Wald auf dessen kleinem, bei Skworeschniki gelegenen Gute zum Abschlagen gekauft, war aber mit der Zahlung von vierhundert Rubeln im Rückstand geblieben. Obgleich Warwara Petrowna ihren Freund, als sie ihn nach Berlin schickte, reichlich mit Geldmitteln ausgestattet hatte, hatte Stepan Trofimowitsch doch auf diese vierhundert Rubel vor seiner Abreise noch besonders gerechnet, wahrscheinlich für seine geheimen Ausgaben, und hatte beinah geweint, als Andrejew bat, ihm einen Monat Frist zu geben; übrigens hatte dieser sogar ein Recht auf einen solchen Aufschub; denn er hatte die ersten Raten fast ein halbes Jahr vor den Terminen bezahlt, weil Stepan Trofimowitsch sich damals in besonderer Geldklemme befunden hatte. Warwara Petrowna las diesen ersten Brief mit lebhaftem Interesse durch, unterstrich mit Bleistift den Ausruf: »Wo sind jetzt diese beiden weiblichen Wesen?« vermerkte darauf das Eingangsdatum und schloß ihn in das Schubfach. Er hatte natürlich seine beiden verstorbenen Frauen gemeint. In dem zweiten Briefe, der aus Berlin eintraf, war die Tonart eine etwas andere: »Ich arbeite zwölf Stunden täglich,« (»na, wenn's auch nur elf sind,« murmelte Warwara Petrowna), »stöbere in den Bibliotheken umher, kollationiere, kopiere, laufe herum; ich bin bei vielen Professoren gewesen. Ich habe die Bekanntschaft mit der prächtigen Familie Dundasow erneuert. Wie reizend ist Nadeschda Nikolajewna noch immer! Sie läßt Sie grüßen. Ihr junger Gatte und alle drei Neffen sind in Berlin. Abends unterhalte ich mich mit der Jugend bis zum Morgengrauen, und wir haben somit beinah attische Nächte, aber nur was Geist und Geschmack anlangt; es geht alles sehr gesittet zu; viel Musik, spanische Melodien, Phantasien von der Erneuerung des ganzen Menschengeschlechtes, die Idee der ewigen Schönheit, die sixtinische Madonna, Licht mit stellenweiser Dunkelheit; aber auch die Sonne hat ja ihre Flecken! O meine Freundin, meine edle, treue Freundin! Mit meinem Herzen bin ich bei Ihnen und der Ihrige; mit Ihnen allein möchte ich immer zusammen sein en tout pays, und wäre es selbst dans le pays de Makar et de ses veaux, von dem wir (Sie werden sich erinnern) so oft mit Zittern und Zagen in Petersburg vor meiner Abreise gesprochen haben. Ich erinnere mich daran mit einem Lächeln. Nachdem ich die Grenze überschritten hatte, fühlte ich mich sicher, ein seltsames, neues Gefühl, zum erstenmal nach so langen Jahren ...« usw. usw.
»Na, das ist lauter dummes Zeug!« sagte Warwara Petrowna, indem sie auch diesen Brief weglegte. »Wenn er bis zum Morgengrauen attische Nächte verlebt, dann kann er nicht zwölf Stunden täglich bei den Büchern sitzen. Ob er das in betrunkenem Zustande geschrieben hat? Wie kann diese Frau Dundasowa sich erdreisten, mich grüßen zu lassen? Übrigens, mag er meinetwegen ein bißchen bummeln ...«
Der Ausdruck, »dans le pays de Makar et de ses veaux« bedeutete: »wohin Makar seine Kälber nicht getrieben hat«. Stepan Trofimowitsch übersetzte manchmal absichtlich in der dümmsten Art und Weise echt russische Sprichwörter und Redensarten ins Französische, obwohl er sie ohne Zweifel richtig verstand und sie hätte besser übersetzen können; aber er tat das aus einer eigenartigen Geschmacksrichtung heraus und fand es geistreich.
Aber sein Bummelleben dauerte nicht lange; er hielt es nicht vier Monate aus und eilte nach Skworeschniki zurück. Seine letzten Briefe bestanden nur aus Ergüssen der gefühlvollsten Liebe zu seiner abwesenden Freundin und waren buchstäblich von Tränen durchnäßt, die er über die Trennung vergossen hatte. Es gibt Naturen, die sich außerordentlich an das Haus gewöhnen, wie Stubenhunde. Das Wiedersehen der Freunde war entzückend. Nach zwei Tagen ging alles wieder im alten Gleise und sogar langweiliger als vorher. »Mein Freund,« sagte Stepan Trofimowitsch nach vierzehn Tagen zu mir unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses, »mein Freund, ich habe etwas Neues entdeckt, was für mich ganz schrecklich ist: Je suis un einfacher Parasit et rien de plus! Mais r-r-rien de plus!«
VIII.
Darauf trat bei uns eine stille Zeit ein, die beinah diese ganzen neun Jahre dauerte. Die Anfälle von krankhafter Traurigkeit, bei denen er an meiner Schulter schluchzte, setzten sich in regelmäßiger Wiederkehr fort, ohne uns in unserer Glückseligkeit zu stören. Ich wundere mich, daß Stepan Trofimowitsch in dieser Zeit nicht dick wurde.